Klinische Psychologie und das Konstrukt „Psychische Störung“ Flashcards

1
Q

Was sind psychische Störungen? Eine Krankheit?

A

der Begriff “Krankheit” wird erst zur „Kennzeichnung solcher Zustände einer Person benutzt, die nicht mehr als normal angesehen werden und daher einer besonderen Erklärung bedürfen. Dabei handelt es sich um beobachtbare oder drohende Veränderungen im Wohlbefinden (…), im Verhalten und in der Leistungsfähigkeit einer Person, die normalerweise nicht zu erwarten sind“

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2
Q

Krankheitsbegriff ist eng verknüpft mit…

A

Krankheitsbegriff eng verknüpft mit körperlichen Erkrankungen (durch somatisch-biologischen Ursachen zustande kommend)

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3
Q

Rechtsprechung von Krankheitsbegriff:

A

Krankheit (i.S. der gesetzlichen Krankenversicherung) „versteht sie einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, der die Notwendigkeit einer Heilbehandlung, die Arbeitsunfähigkeit oder beides zur Folge hat.“

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4
Q

Was heißt „regelwidrig“?

A

Abweichung von der Norm

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5
Q

Psychische Störungen aus Naturwissenschaftlicher Perspektive

A
  • psychische Störungen sind objektiv vorfindbar
  • Entstehung und Verlauf erfolgen nach naturwissenschaftlichen Gesetze
  • Erforschung mit den Mitteln der empirischen Forschung
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6
Q

Psychische Störungen aus Sozialwissenschaftlicher Perspektive

A
  • psychische Störungen werden immer wieder neu interpretiert
  • Interpretationsangebote sind vor dem Hintergrund der jeweils vorherrschenden sozialen, kulturellen und geistigen Strömungen zu betrachten
  • führt zu immer wieder neuem Umgang mit dem Anders-Sein, den Behandlungszuständigkeiten und Folgen für die Betroffenen
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7
Q

„Interpretationen“ psychischer Störungen …und ihre Folgen

Beispiel (1): Depression: im Laufe der Zeit

A
  • griechisch-römische Antike: Übermaß an schwarzer Galle
  • Mittelalter: dämonische Versuchung oder Sünde (Teufel); von Gott entfernt
  • Moderne: Pathologisierung (als Krankheit angesehen)
  • Definitionsschwelle depressiver Erkrankungen: fortlaufend gesenkt
    (→ DSM-5)
  • Wandel der Behandlungsmethoden
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8
Q

„Interpretationen“ psychischer Störungen …und ihre Folgen

Beispiel (2): Alkoholismus: im Laufe der Zeit

A
  • ein transzendentales Gemeinschaftserlebnis
  • guter“ und „schlechter“ Rausch
  • Alkoholkonsum eine Erscheinungsform von “Erbminderwertigkeit“
  • Alkoholismus – eine Krankheit?
  • Verringerung der Grenzwerte für gesundheitsschädliches Verhalten durch die WHO in den letzten Jahrzehnten
    —> Wandel
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9
Q

These: Betrachtet man psychische Störungen nur aus einer Perspektive, so

A

führt diese zu einer Gegenstandsverkürzung

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10
Q

—> Psychische Störungen…
‒ sind ……
‒ können als ….. aufgefasst werden
‒ was und ab wann etwas als abweichend/krank gilt, unterliegt einem …
‒ sind beobachtbar, beinhalten aber auch eine …..

A

‒ …sind Normabweichungen
‒ …können als Krankheiten aufgefasst werden
‒ …was und ab wann etwas als abweichend/krank gilt, unterliegt einem Wandel der Zeit
‒ …sind beobachtbar, beinhalten aber auch eine Bewertung

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11
Q

—> Grundlage der Bewertung: Normen (5 Stück)

A

‒ Statistisch
‒ Sozial
‒ Funktional
‒ Ideal
‒ Subjektiv

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12
Q

Innerhalb der Medizin: Klinische Psychologie besonderen Bezug zu?

A

Psychiatrie

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13
Q

Gründungsväter der klinischen Psychologie
Der Beginn der Klinischen Psychologie wird an zwei Ereignissen und zwei Veröffentlichungen festgemacht: (Jahreszahlen nicht wichtig)

A
  1. 1896 gründete der amerikanische Psychologe Lightner Witmer (1867–1956) in Phi- ladelphia die erste „Psychologische Klinik“
  2. und führte den Begriff „Klinische Psychologie“ ein.
  3. Ein Jahr zuvor (1895) hatte Emil Kraepelin (1856– 1926) sein Werk „Der psychologische Versuch in der Psychiatrie“ veröffentlicht.
  4. Im selben Jahr er- schienen die von Sigmund Freud (1856–1939) – gemeinsam mit Josef Breuer – verfassten „Studien über Hysterie“.
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14
Q

Witmer. Charakteristisch für Witmers Verständnis von „Klinischer Psychologie“ waren:

A
  • die ausdrückliche Anwendungs- und Einzelfallorientierung. „Klinisch“ bedeutete für ihn „Arbeit mit dem Einzelfall“.
  • In seiner Klinik bestand diese Ar- beit in der Diagnostik und Behandlung von Kin- dern mit sprachlichen Retardierungen, Lernbeein- trächtigungen, schulischen Problemen und Erzie- hungsproblemen.
  • Die klinische Methode war aber seiner Meinung nach nicht auf die Arbeit mit be- einträchtigten Menschen begrenzt, sondern ohne Weiteres auch auf Menschen anwendbar, die sich vom Durchschnitt z. B. durch besondere Begabun- gen unterscheiden. Die Behandlung war vorwie- gend pädagogisch orientiert.
  • Neu war, dass man nun versuchte, das praktische Handeln an den Er- kenntnissen der wissenschaftlichen Psychologie auszurichten.
  • „Anwendungsorientierung“ war also keine Absage an die wissenschaftliche Psycho- logie, sondern eher eine besondere Form ihrer Auf- wertung.
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15
Q

Witmers Leistungen werden heute vor allem in seinem Beitrag zur ……. gesehen

A

Witmers Leistungen werden heute vor allem in seinem Beitrag zur Professionalisierung der Klinischen Psychologie gesehen.

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16
Q

Kraepelin. Kraepelin versuchte:

A
  • experimentelle Ansätze der Psychologie auf psychiatrische Fragestellungen zu übertragen.
  • Er führte u.a. Untersuchungen zu den psychischen Auswirkungen von Schreck, Über- raschung und Erwartung, zur Schlaftiefe und zu den Auswirkungen von Vergiftungen, Alkohol, Drogen etc. auf psychische Prozesse durch.
  • Seine experimentelle Orientierung und sein Interesse an pharmakologischen Arbeiten wurden bereit- willig aufgegriffen und zur Basis einer experimen- tellen Tradition in der Psychopathologie, die bis heute fortlebt.
  • Auch die medizinische Sicht auf psy- chiatrische Probleme wurde von Kraepelin nicht infrage gestellt.
  • Er legte vielmehr den Grundstein für die Entwicklung einer Krankheitslehre psy- chischer Störungen, die für die Psychiatrie fast 100 Jahre lang Geltung behielt.
  • Erst mit der Ein- führung der ICD-10 im Jahr 1992 wurde das von Kraepelin ent- wickelte System psychischer Krankheiten aufgege- ben
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17
Q

Freuds Verdienste für die Entwicklung der Klinischen Psychologie sind u.a. darin zu sehen, dass …..

A
  • er auf die Bedeutung soziokultureller Ein- flüsse und frühkindlicher Erfahrungen für die Entstehung psychischer Störungen aufmerksam gemacht und die Bedeutung der therapeutischen Beziehung für Veränderungsprozesse erkannt hat.
  • Auch Freuds Orientierung war ursprünglich expe- rimentell-naturwissenschaftlich. Er gab diese Ori- entierung aber später zugunsten eines phänome- nologisch-hermeneutischen Wissenschaftsver- ständnisses auf.
  • Vor dem Hintergrund des bis heu- te vorwiegend experimentell-naturwissenschaftli- chen Selbstverständnisses der akademischen Psy- chologie ist es deshalb umso bemerkenswerter, dass Freuds Bedeutung für die Entwicklung der Klinischen Psychologie nie ernsthaft infrage ge- stellt wurde.
  • Allerdings wird ihm besonders gern eine indirekte Bedeutung zugeschrieben: Die meisten klinisch-psychologischen Störungstheo- rien und Behandlungsansätze seien in Abgrenzung zur Psychoanalyse entwickelt worden.
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18
Q

Weiterentwicklung der klinischen Psychologie in Deutschland und der USA
Von der Psychodiagnostik zur Psychotherapie:

Störungs- theorien und Behandlungsansätze erlangten allerdings erst …

A

relativ spät nennenswerte Bedeutung für das Selbstverständnis der Klinischen Psycho- logie

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19
Q

Die Einflüsse der deutschsprachigen Psychologie auf die Entwicklung der Klinischen Psychologie wurden mit Beginn von was deutlich schwächer? Warum?

A
  • Die Einflüsse der deutschsprachigen Psychologie auf die Entwicklung der Klinischen Psychologie wurden mit Beginn des Nationalsozialismus deut- lich schwächer.
  • Psychologieprofessoren „nichtari- scher Abstammung“ wurden in den Ruhestand versetzt, entlassen, verschleppt und/oder ermor- det.
  • Einige (auch nichtjüdische) Professoren emi- grierten in die USA. Zwar wurden auch neue Pro- fessuren eingerichtet, für eine Berufung waren da- mals in Deutschland aber weniger wissenschaftli- che Qualifikationen erforderlich als vielmehr Er- fahrungen in der „Wehrmachtspsychologie“, vor allem in Diagnostik
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20
Q

Die Psychologie war nun also weniger in Bezug auf ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse gefragt als in Bezug auf ….. Qualifikationen. Das erfor- derte eine neue Art der Ausbildung:

A

1941 wurde in Deutschland die erste Diplom-Prüfungsord- nung für Psychologie erstellt. Sie löste das bisher rein wissenschaftlich orientierte Studium zuguns- ten eines berufsvorbereitenden Studiums ab (und blieb bis 1973 fast unverändert gültig). Die Kli- nische Psychologie war in diesem Stadium aller- dings noch nicht als Studienfach vorgesehen.

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21
Q

Was begann in der USA noch während des zweiten Weltkrieges?

A

begann dort (USA) noch während des Zweiten Weltkrieges eine neue Ära für die Kli- nische Psychologie. War Psychotherapie bis dahin mit Psychoanalyse gleichgesetzt, wurden allmäh- lich auch genuin psychologische Behandlungsver- fahren entwickelt.

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22
Q

Entwicklung der klientenzentrierten Psycho- therapie:

A

Bereits 1942 veröffentlichte Carl Rogers (1902–1987) sein Buch „Counseling and Psychothe- rapy“. Dieses Buch gilt als der Beginn der klienten- zentrierten Psychotherapie, die in Deutschland al- lerdings erst Ende der 1960er-Jahre (als Ge- sprächspsychotherapie) bekannt wur- de.

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23
Q

Entwicklung der Verhaltenstherapie:

A

Noch stär- ker mit der wissenschaftlichen Psychologie ver- bunden zeigten sich die Vertreter der Verhaltens- therapie, die in den 1950er-Jahren entwickelt wurde: 1958 verwendeten Arnold Lazarus (geb. 1932) und Hans Jürgen Eysenck (1916–1997) – unabhängig voneinander, wie immer betont wird – zum ersten Mal in einer Veröffentlichung bzw. in einem Vortrag den Begriff „Behavior Therapy“

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24
Q

„Verhaltenstherapie“ wurde ursprünglich nicht ein- fach nur als neuer psychotherapeutischer Ansatz, sondern als ….. ver- standen

A

„Verhaltenstherapie“ wurde ursprünglich nicht ein- fach nur als neuer psychotherapeutischer Ansatz, sondern als Alternative zur Psychotherapie ver- standen

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25
Q

Wovon grenzte sich Eyseneck ausdrücklich ab?

A

von der Psychotherapie

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26
Q

Das aus heutiger Sicht vertraute Verständnis von Klinischer Psychologie gibt es in Deutschland seit:

A

Das aus heutiger Sicht vertraute Verständnis von Klinischer Psychologie gibt es in Deutschland seit Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre

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27
Q

Da klinische das mit abstand beliebteste schwerpunktfach :

A

frühere Spezialisierungsmöglichkeiten abgeschafft

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28
Q

Was meint Medikalisierung?

A

Medikalisierung meint, dass ur- sprünglich nichtmedizinische Probleme als medizi- nische Probleme („Krankheiten“) definiert werden und dass man zum Beschreiben, Verstehen und „Behandeln“ dieser Probleme auf medizinische Denkmodelle Bezug nimmt

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29
Q

Definitionen und Konzeptionen von Klinischer Psychologie

Worin unterscheiden sich Definitionen und Lehrbücher klinischer Psychologie?

A

Definitionen von Klinischer Psychologie und Lehr- bücher zur Klinischen Psychologie unterscheiden sich einerseits hinsichtlich des Gegenstandes, auf den sie sich beziehen, andererseits hinsichtlich der Aufgaben, die der Klinischen Psychologie zu- geschrieben werden.

30
Q

Was lässt sich alles zu den Aufgaben der klinischen Psychologie zählen?

A

Manche Autoren grenzen die Klinische Psychologie auf die Psychopathologie (d. h. die Beschreibung, Er- klärung, Vorhersage und Klassifikation psy- chischer Störungen), die Psychodiagnostik und die Behandlung psychischer Störungen ein (Ab- normal Psychology oder Störungsspezifische Kli- nische Psychologie), andere zählen auch Gesund- heitsförderung, Rehabilitation, Beratung, Betreu- ung und die Auseinandersetzung mit den kon- textuellen Bedingungen klinisch-psychologischen Handelns zu den Aufgaben der Klinischen Psy- chologie (Kontextuelle Klinische Psychologie).

31
Q

große Ambiguitätstoleranz meint:

A

Man solle die Fähigkeit mit- bringen, „mit vorläufigen und widersprüchlichen Informationen zurechtzukommen

32
Q

In Deutschland war dieses Verständnis von Kli- nischer Psychologie nach dem Zweiten Weltkrieg erst einmal auf die DDR begrenzt. In der alten Bun- desrepublik konzentrierte sich das Interesse der Klinischen Psychologie dagegen bis in die 1960er- Jahre auf die psychischen Aspekte körperlicher Krankheiten. Das hat seine Nachwirkungen bis heute:

A

Mit wenigen Ausnahmen sind in den deutschsprachigen Lehrbüchern neben den psy- chischen Störungen nach wie vor auch psychische Aspekte körperlicher Erkrankungen Thema der Klinischen Psychologie

33
Q

Störungsspezifische Klinische Psychologie

Daneben hält sich aber auch ein engeres Verständ- nis, wonach sich die Klinische Psychologie ledig- lich „mit …… (Therapie) psychischer Stö- rungen“ beschäftigt. Welche Begriffe werden für diese Aussage verwendet?

A

Daneben hält sich aber auch ein engeres Verständ- nis, wonach sich die Klinische Psychologie ledig- lich „mit der Beschreibung, Erklärung und gegebe- nenfalls Veränderung (Therapie) psychischer Stö- rungen“ beschäftigt. Für dieses Verständnis von Klinischer Psychologie wird im angloamerikanischen Sprachraum der Begriff Abnormal Psychology, im deutschen Sprachraum meist der Begriff Störungsspezifische Klinische Psychologie verwendet. Es ist jenes Verständnis von Klinischer Psychologie, das gemeint ist, wenn der Klinischen Psychologie ihre Defizitorientie- rung und Individuumszentrierung (ihr „Kli- nischer Blick“) vorgeworfen wird.

34
Q

Während die Psychopathologie….

versteht sich die Pathopsychologie als….

A

Während die Psycho- pathologie als Teil der allgemeinen medizinischen Krankheitslehre eng an den medizinischen Krank- heitsbegriff gebunden ist und von einer spezi- fischen Verursachung und einem vorhersagbaren Verlauf psychischer Störungen ausgeht (Ätiologie), versteht sich die Pathopsychologie ausdrücklich als psychologische Störungslehre. Sie nimmt ei- nen kontinuierlichen Übergang zwischen „nor- malem“ und „gestörtem“ psychischem Erleben und Verhalten an und hält sich mit allzu sicheren Aussagen zu den Ursachen und dem Verlauf psy- chischer Störungen zurück.

35
Q

Statt nach kausalen Ursachen für eine bestimmte Störung zu suchen, in- teressiert sich die Pathopsychologie stärker für:

A

den prozesshaften Charakter der Entwicklung von Störungen und für diejenigen Bedingungen, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung psy- chischer Störungen, aber auch zur Aufrechterhal- tung „normalen“ Erlebens und Verhaltens beitra- gen und den Verlauf psychischer Störungen posi- tiv oder negativ beeinflussen (Genese bzw. Patho- genese).

36
Q

Die Klinische Psychologie beschäftigt sich demnach mit :

A

Die Klinische Psychologie beschäftigt sich dem- nach „mit psychischen Störungen, mit psycho- logischen Aspekten körperlicher Störungen oder Krankheiten sowie psychischen Krisen, die durch besondere Lebensumstände ausgelöst werden.

37
Q

Die klinische Psychologie stützt sich vorwiegend auf:

A

Als psychologische Disziplin stützt sie sich vorwiegend auf die Erkenntnisse, Theorien, Methodologien und Methoden der Psychologie und ihrer Teildisziplinen.

38
Q

Die Aufgabe der klinischen Psychologie ist es:

A

Ihre Aufgabe ist es, die klinisch-psychologischen Phänomene zu be- schreiben, zu erklären und zu klassifizieren (Pa- thopsychologie), zu erfassen (Psychodiagnostik), ihr Auftreten zu verhindern oder zu behandeln (Prävention und Intervention) und ihre Zusam- menhänge mit ökologischen, soziokulturellen, in- stitutionellen Rahmenbedingungen aufzuklären und zu beeinflussen (kontextuelle Bedingun- gen).

39
Q

Als Nachbargebiete der klinischen Psychologie gelten vor allem:

A

gelten vor allem die Psychia- trie, Psychosomatische Medizin und Verhaltens- medizin sowie die Medizinische Psychologie und Gesundheitswissenschaften („Public Health“) als Nachbarfächer der Klinischen Psychologie

40
Q

Psychiatrie. Mit der Psychiatrie teilt sich die Klinische Psychologie die Zuständigkeit für:

Unterschiede und Stützpunkte

A
  • Mit der Psychiatrie teilt sich die Klinische Psychologie die Zuständigkeit für psy- chische Störungen.
  • Mehr oder weniger explizit wird zwischen den beiden Berufsgruppen eine Aufteilung der Zuständigkeiten vorgenommen, in- dem „schwere“ psychische Störungen eher den Psychiatern, „leichtere“ psychische Störungen eher den Psychologen überlassen werden.
  • Der eigentli- che Unterschied zwischen den Fächern dürfte aber weniger in der Zuständigkeit für bestimmte psy- chische Störungen zu finden sein als vielmehr im Störungsverständnis (also in der Perspektive, aus der psychische Störungen wahrgenommen wer- den). Auch wenn sich beide Fächer gern auf das biopsychosoziale Modell psychischer Störungen beziehen, lässt sich tendenziell festhal- ten, dass die Psychiatrie – zumindest die „biologi- sche Psychiatrie“ – psychische Störungen eher als Symptome einer zugrunde liegenden somati- schen Störung und damit als Krankheiten auf- fasst, während die Klinische Psychologie von einem kontinuierlichen Übergang zwischen nor- malem und gestörtem psychischem Erleben und Verhalten ausgeht.
  • Sie ist sehr viel stärker an den Bedingungen interessiert, die zu Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen beitra- gen, als an der Suche nach (organischen) Ursachen
41
Q

Bezüglich der Beschäftigung mit psychischen Aspekten körperlicher Erkrankungen über- schneidet sich die Klinische Psychologie mit:

A

der Medizinischen Psychologie, der Psychosomati- schen Medizin und der Verhaltensmedizin.

42
Q

Medizinische Psychologie:

A
  • Medizinische Psy- chologie ist Teil der Lehre im Medizinstudium und soll zukünftige Ärzte in Konzepte, Methoden und Erkenntnisse der Psychologie einführen, vor allem aber zu Reflexion und Gestaltung der Arzt-Patient- Beziehung anregen.
  • So gibt es zwar Lehrstühle für Medizinische Psychologie, aber die Hochschulleh- rer für Medizinische Psychologie sind auch die einzige Berufsgruppe, auf die sich die Bezeichnung „Medizinpsychologe“ anwenden lässt.
  • Die Medizi- nische Psychologie ist also ausschließlich an Uni- versitäten vertreten. Sie ist kein Fach, mit dem die Klinische Psychologie Reviere abstecken müsste, wie das etwa bei der Psychiatrie der Fall ist.
  • Da Institute oder Abteilungen für Medizinische Psycho- logie immer auch Psychologen im Team haben, ist die Medizinische Psychologie im Gegenteil ein Fach, das für Klinische Psychologen attraktive Ar- beitsplätze bereitstellt.
43
Q

Psychosomatische Medizin:

A
  • Sie ist zwar ein medizinisches Fach – seit 2003 gibt es in Deutsch- land den „Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ –, ist aber für Psychologen deshalb interessant, weil die Kliniken für Psycho- somatische Medizin und Psychotherapie auch po- tenzielle Arbeitgeber für Psychologische Psycho- therapeuten sind.
  • Inhaltliche Überschneidungen mit der Klinischen Psychologie ergeben sich da- raus, dass sich die Psychosomatische Medizin mit den „Wechselwirkungen zwischen körperlichen, seelischen und sozialen Prozessen in der Entste- hung, im Verlauf und bei der Bewältigung von Krankheiten und Lebenszuständen“ beschäftigt
  • Ursprünglich psychoana- lytisch orientiert, umfasst die Psychosomatische Medizin inzwischen auch die „Verhaltensmedizin“.
44
Q

Verhaltensmedizin:

A
  • Die Verhaltensmedizin ver- steht sich als „ein interdisziplinäres Feld …, das sich unter biopsychosozialer Perspektive mit der Ätiologie, Epidemiologie, Diagnostik, Prävention, Therapie und Rehabilitation von somatischer Ge- sundheit und Krankheit beschäftigt“
  • Neben der Analyse phy- siologischer, neurologischer, biologischer und im- munologischer Faktoren von Krankheiten geht es der Verhaltensmedizin auch um die Analyse von „Risikoverhaltensweisen“ (z. B. für Herzinfarkt, Schlaganfall etc.), um Möglichkeiten, Risikoverhal- ten zu beeinf lussen (z. B. Programm zur Raucher-entwöhnung) und um die psychologische Unter- stützung von Patienten nach medizinischen Ein- griffen.
  • Die Verhaltensmedizin bietet damit vor al- lem Klinischen Psychologen mit verhaltenstheo- retischer und verhaltenstherapeutischer Orientie- rung ein weites Betätigungsfeld.
45
Q

Gesundheitspsychologie:

A
  • Dass die Gesund- heitspsychologie der Klinischen Psychologie sehr nahesteht, kommt darin zum Ausdruck, dass sie mitunter sogar als Teilgebiet der Klinischen Psy- chologie gesehen wird
  • Üblicher ist es, sie als Fach neben der Klinischen Psychologie einzustufen, das allerdings Überschneidungen mit der Klinischen Psychologie (sowie mit der Medizinischen Psychologie, der Verhaltensmedizin und den Gesundheitswissen- schaften/Public Health) aufweist
  • Während die Klinische Psychologie aber als Anwendungsfach gilt, scheint sich die Gesund- heitspsychologie eher als Grundlagenfach zu ver- stehen
46
Q

Gesundheitspsychologie ist ein wissenschaftli- cher Beitrag der Psychologie zur: (6 Aspekte)

Sie befasst sich vor allem mit:

A

»Gesundheitspsychologie ist ein wissenschaftli- cher Beitrag der Psychologie zur 1) Förderung und Erhaltung von Gesundheit, 2) Verhütung und Behandlung von Krankheiten, 3) Bestim- mung von Risikoverhaltensweisen, 4) Diagnose und Ursachenbestimmung von gesundheitlichen Störungen, 5) Rehabilitation und 6) Verbesserung des Systems gesundheitlicher Versorgung. Sie befasst sich vor allem mit der Analyse und Beein- flussung gesundheitsbezogener Verhaltenswei- sen des Menschen auf individueller und kollekti- ver Ebene sowie mit den psychosozialen Grund- lagen von Krankheit und Krankheitsbewälti- gung.«

47
Q

Klinische Neuropsychologie:

A
  • Die Klinische Neuropsychologie nimmt unter den Fächern, die sich mit psychischen Aspekten körperlicher Er- krankungen befassen, eine Sonderstellung ein. Sie beschäftigt sich mit den Zusammenhängen zwi- schen dem Gehirn und dem Erleben und Verhal- ten.
  • Obwohl sehr forschungsorientiert, versteht sie sich als Anwendungsfach mit einem Schwerpunkt in Diagnostik und Intervention.
  • In Deutschland gibt es einen eigenen Berufstitel „Klinische/r Neu- ropsychologe/in“.
  • Die Neuropsychologische The- rapie ist für den Anwendungsbereich „Hirnorgani- sche Störungen“ eine wissenschaftlich anerkannte Psychotherapiemethode
48
Q

Public Health:

A
  • Public Health ist vor allem für die Kontextuelle Kli- nische Psychologie von Interesse.
  • Da diese den Anspruch erhebt, sich mit den kontextu- ellen Bedingungen psychischer Störungen und kli- nisch-psychologischen Handelns auseinander- zusetzen und sie zu beeinflussen, muss sie sich fast zwangsläufig auch mit Public Health beschäftigen.
  • Dennoch ist davon auszugehen, dass die Klinische Psychologie die Herausforderungen, die Public Health an sie stellt, höchstens teilweise annehmen wird. Denn die Klinische Psychologie tut sich schwer damit, sich (versorgungs-, sozial- und ge- sellschafts-)politisch einzumischen.
49
Q

Gemeindepsychologie. Die Gemeindepsycholo- gie verfolgt ähnliche Zielsetzungen wie Public Health, betont die kritische Haltung gegenüber ge- sellschaftlichen und institutionellen Bedingungen aber eher noch deutlicher
Ihre Schwerpunkte sind:

A

● die Analyse krank machender und förderlicher Lebensbedingungen
● die Förderung gesund machender Lebensbedin- gungen in sozialen Netzwerken, Arbeit, Schule und Freizeit
● der Aufbau individueller und kollektiver Kom- petenzen
● die Stärkung sozialer Stützsysteme und partizi- pativer Strukturen (Empowerment)
● die Entwicklung von Projekten zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements
● Prävention und Gesundheitsförderung und
● die Beteiligung an politischen Planungsprozes- sen und Einmischung in sozialpolitische Entscheidungen

50
Q

Derzeit fallen bezüglich des Verhältnisses der Klinischen Psychologie zu anderen Teilgebieten der Psychologie zwei Ten- denzen besonders auf:

A
  1. ihre Annäherung an die Grundlagenfächer (vor allem an die Allgemeine Psychologie, Neuropsychologie, Biopsychologie und Entwicklungspsychologie)
  2. und die generelle Bereitschaft, auf Forschungsergebnisse und Theo- rien Bezug zu nehmen, die außerhalb der Kli- nischen Psychologie gefunden bzw. entwickelt wurden.
51
Q

Die Tätigkeiten Klinischer Psychologen konzen- trieren sich vor allem auf zwei Aufgabenbereiche:

A

Psychotherapie und Beratung. Zwar zählen auch Diagnostik, Lehre und Supervision, Verwaltungs- tätigkeiten, Forschung, Trainings, Schulungen, kon- zeptuelle Aufgaben und Öffentlichkeitsarbeit zu den Tätigkeiten Klinischer Psychologen, für keine andere Tätigkeit aber wird so viel Zeit aufgewen- det wie für Psychotherapie und Beratung

52
Q

Es erstaunt daher nicht, dass Klinische Psychologen vor allem im Gesundheits- wesen und im Sozialwesen tätig sind. Die wich- tigsten Arbeitsfelder in diesen beiden Bereichen sind:

A

Beratungsstellen (Drogen-, Erziehungs-, Fa- milien- und Eheberatung), die Psychiatrie und an- dere medizinische Einrichtungen (Neurologie, Suchtkliniken, Rehabilitation, Kinderkliniken, In- nere Medizin) und die eigene psychotherapeuti- sche Praxis

53
Q

Ob man psychische Störungen eher von Normali- tät oder von (psychischer) Gesundheit abzugren- zen versucht und wie man sich die Grenzen oder Übergänge zwischen psychischer Störung und Normalität bzw. psychischer Gesundheit vorstellt, hängt eng womit zusammen?

Was wurde in den 1960er Jahren stark diskutiert, was wird heute diskutiert?

A
  • welche Theorien und Modelle zu einem bestimmten Zeitpunkt fa- vorisiert werden, wird aber auch von wissen- schafts- und versorgungspolitischen Entwicklun- gen beeinflusst.

In den 1960er- und 1970er-Jah- ren wurde darüber diskutiert, ob es überhaupt innvoll sei, psychisch Gesunde von psychisch Kranken zu unterscheiden. Damals richtete sich der Blick mehr auf die sozialen Normen und Re- geln, die zum Urteil „psychisch krank“ führten als auf das „abweichende Verhalten“ selbst. Derzeit wird eher darüber diskutiert, ob es angemesse- ner ist, von qualitativen Unterschieden zwischen psychischen Störungen und psychischer Gesund- heit oder von einem Kontinuum zwischen psy- chischer Gesundheit und psychischer Störung auszugehen

54
Q

In der deutschen Psychiatrie wurde der Begriff Psychische Störung erst 1984 – im Zuge der Übersetzung des DSM-III – offiziell eingeführt. Den Übersetzern war klar, dass sie den Psychiatern damit einiges zu- muteten: Warum?

A

Schließlich sei es „dem deutschen Klini- ker ungewohnt“, „von vielen herkömmlich als Krankheiten oder gar Krankheitseinheiten ver- standenen Zuständen lediglich als ,Störung‘ zu sprechen“. Der neue Begriff der „psychischen Stö- rung“ (der die seit Kraepelin üblichen Begriffe der „psychischen Krankheit“ oder „psychiatrischen Er- krankung“ ablösen sollte) sei „für viele Kollegen fremdartig und offensichtlich häufig sogar ein Är- gernis“

55
Q

Die Bedenken gegenüber dem Begriff Psychische Störung werden nachvollziehbar, wenn man weiß, dass:

A
  • Die Bedenken gegenüber dem Begriff werden nachvollziehbar, wenn man weiß, dass er als Teil eines Kompromisses verstanden werden kann, auf den sich Psychiater und Psychologen eingelassen haben, um den Bestand eines gemeinsamen Klas- sifikationssystems zu sichern
  • Als öffentlich wur-de, dass das DSM-III im Anhang oder Vorwort eine Definition von „psychischer Störung“ enthalten sollte, in der psychische Störungen als spezifische Untergruppe von medizinischen Krankheiten be- zeichnet wurden, bildete die American Psychologi- cal Association (APA) eine eigene Arbeitsgruppe („Task Force on Descriptive Behavioral Classifica- tion“), in der ein alternatives Klassifikationssys- tem entwickelt werden sollte. Erst als zugesichert wurde, dass das DSM-III keinerlei Aussagen zur Zuordnung psychischer Störungen zu medizini- schen Krankheiten machen würde, gab die APA ihre Opposition und den Plan eines eigenen Klassi- fikationssystems auf.
56
Q

Der Begriff der psychischen Störung wird deshalb gern als …. der Psychiatrie an die Psychologie interpretiert: Wie kann man die Einigung noch interpretieren?

A
  • Der Begriff der psychischen Störung wird deshalb gern als Zugeständnis der Psychiatrie an die Psychologie interpretiert. Man kann die Einigung aber auch als Sieg des medizini- schen Modells interpretieren , da sie zur Folge hatte, dass die Klinische Psychologie sich zu- nehmend mit dem medizinischen Denken der Psy- chiatrie anfreundete.
57
Q

Nicht weniger heftig als die Diskussionen über eine Zuordnung psychischer Störungen zu den (medizinischen) Krankheiten, waren in den 1960er- und 1970er-Jahren die Debatten darüber, ob es überhaupt sinnvoll und möglich sei, psy- chisch Gesunde von psychisch Kranken zu unter- scheiden und ob man auf das Etikett „psychische Krankheit“ nicht besser ganz verzichten sollte. So fragte man sich z. B., ob:

A

● es nicht besser sei anzuerkennen, dass „psy- chische Krankheit“ nichts anderes als ein Mythos sei
● „psychische Krankheiten“ bzw. „psychische Stö- rungen“ nicht einfach nur durch den sozialen Kontext hergestellt werden und ob
Diagnosen möglicherweise in erster Linie der Ausgrenzung der betroffenen Personen dienen.

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Q

Die heute eingeforderte Kultur- und Gendersensibilität und die fast selbstverständlich gewordene Betrachtung psy- chischer Störungen als Konstrukte, „auf die sich Forscher und Praktiker als bestmögliche Lösung für eine begrenzte Zeit geeinigt haben“, lassen sich als Weiterführung der damaligen Versuche eines …. interpretieren. Was hatten Alle versuche gemeinsam?

A

Die heute eingeforderte Kultur- und Gendersensibilität und die fast selbstverständlich gewordene Betrachtung psy- chischer Störungen als Konstrukte, „auf die sich Forscher und Praktiker als bestmögliche Lösung für eine begrenzte Zeit geeinigt haben“ , lassen sich als Weiterführung der damaligen Versuche eines sozialwissenschaft- lichen Zugangs zu „psychischen Störungen“ bzw. – in der damals bevorzugten Terminologie – zu „Verhaltensstörungen“ interpretieren. Allen die- sen Versuchen war gemeinsam, dass Verhaltens- störungen als „abweichendes Verhalten“ betrach- tet wurden, das erst aus seinem Eingebettetsein in soziale Normen und Regeln verstanden werden könne, und dass diese Normen und Regeln als ver- änderbar und kulturspezifisch galten

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Q

Der Etikettierungsansatz:

A

Heute würde sich wohl kaum jemand der Auffassung anschließen, psychische Abnormität/Krankheit/Störung sei nur aus dem sozialen Kontext heraus und nur als Er- gebnis gesellschaftlicher Klassifizierungsprozesse zu verstehen. Genau das aber war die Position der Labeling-Perspektive oder des Etikettierungsansat- zes

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Q

Kurz zusammen- gefasst lassen sich die Annahmen des Etikettie- rungsansatzes folgendermaßen skizzieren: (5 Annahmen)

A
  1. Verhalten ist nicht „an sich“ abweichend, son- dern wird es erst aufgrund der Definition durch die Umgebung.
  2. Zum Verständnis abweichenden Verhaltens tragen nicht Informationen über die „Natur“ der Handlung oder bestimmte Merkmale des
    Individuums bei, sondern Informationen über die Gesellschaft, die Etikettierungen vornimmt, und Informationen darüber, wie jemand die Macht gewinnt, andere als abweichend zu defi- nieren.
  3. In den Prozess der Etikettierung fließen auch Statusfaktoren und Machtverhältnisse mit ein – z. B. der soziale Status des Regelverletzers und die Machtbeziehung zwischen demjenigen, der eine Regel verletzt, und demjenigen, der diese Handlung als abweichend definiert.
  4. Ist ein Individuum als abweichend definiert, folgt darauf eine neue, sekundäre Form von Abweichung, die gravierendere Auswirkungen hat als das primär abweichende Verhalten. Das Individuum ist nun auch auf seinen „Abweich- ler“-Status festgelegt und wird von ihm ver- stärkt.
  5. Es gibt Abweichungskarrieren, die durch die offiziellen gesellschaftlichen Reaktionen be- günstigt werden, besonders im Fall eines Aus- schlusses des Individuums aus seiner sozialen Umgebung („Asylierung“).
    Der Etikettierungsansatz konzentriert also sein In- teresse nicht auf das auffällige Verhalten in seiner „objektiven Form“, sondern auf die Reaktionen, die durch ein bestimmtes Verhalten ausgelöst werden und auf die Regeln, die diesen Reaktionen zugrunde liegen.
61
Q

Ob die Etikettierung gelingt, hänge u. a. davon ab ob….

A

● welcher sozialen Schicht der „Regelverletzer“ angehört,
● ob er in irgendeiner Hinsicht schon von seinen
äußeren Merkmalen her „andersartig“ ist (dazu genügt bereits die Missachtung des „Üblichen“ oder die Zugehörigkeit zu einer Minorität),
● ob er selbst oder seine Familie eine deviante Vor- geschichte hat,
● ob sich die Abweichung in kleinen Gruppen oder in größeren, komplexeren sozialen Systemen er- eignet,
● ob der Regelverletzer eine wichtige Rolle inner- halb eines bestimmten Systems innehat, so dass durch die Abweichung das Funktionieren des Systems gefährdet ist usw.

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Q

Die Zurückweisung einer Etiket- tierung ist aber auch deshalb schwierig, weil:

A

in Etikettierungsprozessen der Mechanismus der re- trospektiven Interpretation verwendet wird: Die Lebensgeschichte des etikettierten Individuums wird dabei im Nachhinein so interpretiert, dass al- les dem gewählten Stereotyp entspricht. Dem Indi- viduum wird eine neue Identität zugeschrieben. Dass es jetzt so ist, ist dann im Grunde dadurch zu verstehen, dass es immer schon so war.

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Q

Besonders krasser Ausdruck retrospektiver Inter- pretation ist:

A

der Fallbericht.

64
Q

Der Etikettierungsansatz sieht immerhin die Mög- lichkeit eines „….“, d. h. die Möglichkeit einer Einflussnahme des Etikettierten auf die Defi- nition. Diese Möglichkeit gilt allerdings als be- grenzt, denn?

A

Dabei spielen die sozialen Rollen der defi- nierten Personen eine wichtige Rolle. So wird z. B. ein Psychiater oder Psychotherapeut mit seinem sicheren Auftreten und unter Berufung auf seine fachliche Kompetenz einem unsicheren und ängst- lichen Patienten kaum die Chance lassen, die Defi- nition des Fachmannes durch eine Alternativ-Defi- nition zu ersetzen. Denn Psychiater und Psycho- therapeuten sind ja gesellschaftlich legitimierte In- stanzen, in deren Aufgabenbereich nicht nur die Behandlung, sondern auch die Definition psy- chischer Störungen fällt.

65
Q

Stärken und Schwächen des Etikettierungsansatzes:

A

Als Hauptleistung des Etikettierungs- ansatzes gilt nach wie vor, dass er die Aufmerk- samkeit auf den stabilisierenden und stigmatisie- renden Einfluss von Kontrollmaßnahmen gelenkt hat. Seine Schwäche liegt darin, dass er offenlässt, wie es zu dem (primär abweichenden) Verhalten kommt, auf das mit Etikettierung reagiert wird. Es wird zwar erwähnt, dass es eine Reihe von psycho- logischen, sozialen und physiologischen Faktoren gibt, die zur „primären Abweichung“ führen, und es werden auch Beispiele für solche Faktoren ange- geben (z.B. Nicht-Übereinstimmung der Regeln

66
Q

Der Etikettierungsansatz beschäftigt sich also mit:

A

den Reaktionen der Umwelt auf (primär) abwei- chendes Verhalten, den Regeln und Normen, die diesen Reaktionen zugrunde liegen, und den Auswirkungen von Etikettierungsprozessen. Ist eine Person von ihrer Umwelt als „abweichend“ definiert worden, passt sie sich zunehmend an die von außen an sie gerichteten Erwartungen an und verhält sich entsprechend der ihr zugeschrie- benen abweichenden Rolle. So führt der Etikettie- rungsprozess zu einer (von außen verstärkte) se- kundären Form von Abweichung, die gravieren- dere Auswirkungen hat als die primäre Abwei- chung.

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Q

Die wichtigste Leistung des Etikettie- rungsansatzes ist:

A

die Fokussierung der Aufmerk- samkeit auf den stabilisierenden und stigmati- sierenden Einfluss von Kontrollmaßnahmen.

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Q

Die schwächen des Ettiketierungsansatzes:

A

Seine Schwäche liegt darin, dass er die Fragen nach der Entstehung der primären Abweichung, auf die mit Etikettierung reagiert wird, offenlässt.

69
Q

Nach DSM IV/DSM IV-TR liegt eine psychische Störung vor, wenn bei einer Person ein klinisch bedeutsames Syndrom oder Muster be- steht, bei dem:

A

● der Betroffene unter seinen Symptomen leidet („Leidensdruck“),
● der Betroffene sich in einem oder mehreren Funktionsbereichen beeinträchtigt fühlt,
● dieSymptomemiteinemdeutlicherhöhtenRisi- ko einhergehen, zu sterben bzw. Schmerzen, Be- einträchtigungen oder einen tiefgreifenden Frei- heitsverlust zu erleiden,
● die Symptome nicht nur eine verständliche und kulturell sanktionierte Reaktion auf ein Ereignis sind (z. B. normale Trauerreaktion nach dem Tod eines nahe stehenden Menschen) und
● unabhängig vom Auslöser beim Betroffenen ge- genwärtig eine verhaltensmäßige, psychische oder biologische Funktionsstörung beobachtbar ist.

70
Q

Normabweichendes Verhalten wird aus der Defi- nition von psychischen Störungen im DSM-IV/ DSM-IV-TR explizit ausgeschlossen:

A

„Weder normabweichendes Verhalten (z. B. politischer, re- ligiöser oder sexueller Art) noch Konflikte des Ein- zelnen mit der Gesellschaft sind psychische Stö- rungen“

71
Q

Normabweichendes Verhalten ist nicht so eindeu- tig von psychischen Störungen abgrenzbar, wie das die Definition von psychischen Störungen im aktuellen DSM erscheinen lassen mag. Ähnliches gilt für das Verhältnis von psychischen Störungen und psychischer Gesundheit:

A

Grenzziehungen zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Störung gelten als schwierig bis unmöglich. Das ergibt sich schon aus den Definitionen von psy- chischer Gesundheit. So wird Gesundheit z. B. als „produktive Anpassung“ (d. h. als produktive und konstruktive Auseinandersetzung mit den Anfor- derungen des Lebens) oder als „Selbstverwirk- lichung“ definiert (vgl. Schorr, 1995). Egal, welcher der beiden Definitionen man sich anschließt: Man muss davon ausgehen, dass produktive Anpassung und Selbstverwirklichung immer nur mehr oder weniger gut und in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich gut gelingen werden. Deshalb spricht intuitiv alles für die Annahme eines Kon- tinuums zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Störung – ähnlich wie zwischen psy- chischer Störung und Normalität. Das ist die Posi- tion des psychosozialen Modells (s.S. 40 f.) und der meisten klinisch-psychologischen Modelle psychischer Störungen (s. S. 43 ff.). Dennoch scheint es schwer zu sein, sich von der Idee einer eindeutigen Unterscheidbarkeit von psychischer Störung und psychischer Gesundheit ganz zu ver- abschieden