6. Genetik, Epigenetik & Psychoneuroimmunologie Flashcards

1
Q

Sonderfall der Dominanz angeborener Verhaltensweisen

A

Der neugeborene Säugling atmet und er beherrscht die ein- zelnen Bewegungselemente des Saugens (Mund spitzen, Lippen schließen etc.) und Schluckens angeborenermaßen. Um aber die Milch aus der Brust der Mutter oder dem Fläschchen zu erhalten, muss er zu ihr hingeführt werden und er lernt die notwendigen Schluck- und Saugbewegun- gen erst nach einigen Versuch-und-Irrtum-Durchgängen. Selbst einfache Verhaltensweisen, wie z. B. Gehen, deren elementare motorische Untereinheiten (z. B. Zehen an- heben) nicht gelernt werden müssen, erfordern spezifische Anregung durch die Umgebung.
Andererseits scheint relativ komplexes emotionales Verhalten beim Menschen, wie Lachen oder Weinen, keine spezifische Stimulation zu benötigen, es kommt auch bei taubstummen und blindgeborenen Kindern vor. Der Um- gebungseinfluss ist auf manche Charaktereigenschaften oft erstaunlich gering, ihr genetischer Anteil sehr hoch, obwohl sie meist nicht auf Nachkommen vererbt werden

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2
Q

Sonderfall der Dominanz erlernter Verhaltensweisen

A

Unter besonderen Umständen dominiert das gelernte Ver- halten über das ererbte. So berichten die anekdotischen, aber gut dokumentierten Fälle von Kindern, die von Tieren aufgezogen wurden, dass die Kinder auf allen Vieren liefen, obwohl der genetisch fixierte Bau der menschlichen Gelen- ke dafür nicht geschaffen ist. Ein weiteres, sehr bekanntes Beispiel ist Kaspar Hauser, ein vermutlich seit seiner Geburt in Isolation aufgezogener Mensch im 18. Jahrhundert, der nach seiner Befreiung Schwierigkeiten hatte, Sprache und soziales Verhalten zu erlernen.
Bevor wir uns mit der Erblichkeit von Verhalten, der Verhaltensgenetik, beschäftigen, müssen wir kurz die Prinzipien der Vererbung besprechen. Ohne die Kenntnis der Grundprinzipien der Genetik können wir die Grenzen, die sie für die Ausbildung unseres Verhaltens setzt, nicht verstehen.

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3
Q

Bau und Funktion der Polysaccharide

A

Polysaccharide sind Biopolymere, von der Natur geschaffene Zusammenlagerungen aus Hunderten und Tausenden von Monosacchariden

Wichtigstes tierisches Polysaccharid für zelluläre Energiespeicherung: Glykogen (aus Glukosemolekülen).

Bei Pflanzen ist Stärke das häufigste Reservekohlenhydrat, ebenfalls aus Glukose aufgebaut.

Polysaccharide dienen nicht nur der Energiebevorratung, sondern auch als Stützsubstanzen außerhalb der Zellen.

Zellulose, aus Glukose aufgebaut, ist das am weitesten verbreitete organische Substanz der Pflanzen.

Zucker bildet mit anderen Molekülen Verbindungen, z.B. mit Proteinen zu Glykoproteinen und mit Fetten zu Glykolipiden.

Glykoproteine erfüllen wichtige Funktionen in Zellmembranen und Bindegewebe des Menschen.

Blutgruppensubstanzen bestehen zu 85% aus Sacchariden und sind hauptsächlich Glykoproteine und -lipide

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4
Q

Bau und Funktion der Proteine

A

Proteine dienen als Strukturbestandteile zur Aufteilung des Zellraumes, also in Membranen, als Signale zur Regulation des Stoffwechsels und der Zelltätigkeit (die meisten Hormone sind aus Aminosäuren aufgebaut,und als Einrichtungen zum Empfang von Signalen am Erfolgsorgan

Auch die kontraktilen Strukturen der glatten und quergestreiften Muskulatur sind Proteine. Die Information für den Aufbau all dieser Proteine ist in den anschließend zu besprechenden Nukleinsäuren nieder- gelegt.

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5
Q

Bau und Funktion der Nukleinsäuren

A

Die Nukleinsäuren sind Biopolymere, die aus Ketten von Nukleotiden bestehen

Ähnlich wie bei den Eiweißen handelt es sich dabei um außeror- dentlich lange, immer unverzweigte Ketten. .

in der Zelle nur 2 Grundformen von Nukleinsäu- ren gebildet werden, nämlich einmal die Desoxyribonuklein- säuren, abgekürzt DNA (»desoxyribo nucleic acid«) und zum anderen die Ribonukleinsäuren, entsprechend als RNA abgekürzt.

Eine Nukleinsäure enthält also immer nur die eine oder die andere Pentoseform, gleichgültig aus wie vielen Tausenden von Nukleotiden sie zu- sammengesetzt ist. Daneben kommen die Basen Adenin, Guanin und Cytosin in beiden Nukleinsäuren, die Base Thymin aber nur in DNA und die Base Uracil nur in RNA vor.

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6
Q

Drei Biopolymere sind unentbehrlich:

A
  1. Die Poly- saccharide dienen v. a. als Energiespeicher und als Bausubstanz. 2. Die Proteine (Eiweiße) sind gleicher- maßen an Bau und Funktion der Zellen (z. B. Muskeln, Enzyme, Rezeptoren) beteiligt. 3. In den Nuklein- säuren ist die Erbsubstanz verschlüsselt.
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7
Q

Verschlüsselung in DNA-Molekülen

A

Diese Erkenntnis ist kaum 60 Jahre alt. Den Genetikern war zwar schon davor klar, dass die bei der Zellteilung im Zell- kern sichtbar werdenden Chromosomen die Erbinforma- tion enthalten, aber die DNA wurde wegen ihres relativ einfachen Aufbaues für lange Zeit als nicht geeignet zur Verschlüsselung des genetischen Kodes gehalten. Dazu schienen nur die ebenfalls in den Chromosomen enthalte- nen Eiweiße wegen ihrer viel höheren Komplexität in der Lage. Der Komplex aus DNA und Eiweiß, genannt Chroma- tin, bildet eine lange und dünne Faser, die im Chromosom eng gefaltet und aufgewunden ist.

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8
Q

Strukturmodell Doppelhelix

A

Im Jahre 1953 schlugen J.D. Watson und F. Crick ein Struk- turmodell für die DNA vor, dessen Richtigkeit als gesichert gelten kann. Danach sind die DNA-Moleküle in Doppel- strängen angeordnet, wobei die Desoxyribose und das Phosphat jeweils das »Rückgrat« jedes Stranges bilden, während die Basen nach einer festen Spielregel (A nur mit T, C nur mit G, . Abb. 23.4) die Querbrücken herstellen. Diese Basenpaarung hat zur Folge, dass die Struktur eines Stranges die des anderen vollständig bestimmt. Die Wechsel- wirkungen zwischen den Basenpaaren ergeben außer- dem eine Verdrillung des Doppelstranges. Dadurch ent- steht die bekannte dreidimensionale Struktur der Doppel- helix, wobei sich pro Wendelgang 10 Basenpaare finden

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9
Q

Vorkommen der RNA

A

Der zweite Nukleinsäuretyp, also die RNA, kommt in jeder menschlichen Zelle rund 5- bis 10-mal häufiger vor als die DNA. Es gibt mindestens 3 verschiedene RNA- Klassen, die sich in ihren Eigenschaften deutlich unter- scheiden (7 unten). Sie sind alle an der im nächsten Abschnitt geschilderten Eiweißsynthese beteiligt. RNA- Moleküle sind in der Regel einsträngig, wenn auch Teile eines Moleküls als Doppelhelix vorliegen können.

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10
Q

Die Chromosomen sind aus … aufgebaut. Dieses besteht aus … und …. In der DNA ist die …. verschlüsselt. Die DNA ist als … angeordnet, in der die Struktur eines Stran- ges die des anderen durch die Basenpaarung der Querbrücken eindeutig bestimmt.

A

Die Chromosomen sind aus Chromatin aufgebaut. Dieses besteht aus Eiweiß und DNA. In der DNA ist die Erbsubstanz verschlüsselt. Die DNA ist als Dop- pelhelix angeordnet, in der die Struktur eines Stran- ges die des anderen durch die Basenpaarung der Querbrücken eindeutig bestimmt.

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11
Q

Anzahl, Bau und Zusammensetzung der Chromosomen

A

Danach enthalten die mensch- lichen Zellkerne 23 Chromosomenpaare mit insgesamt rund zweimal 12.500 verschiedenen Erbmerkmalen oder Genen (jedes Gen kommt, wie schon erwähnt, zweimal vor, nämlich ein mütterliches und ein väterliches. Ei und Samen- zelle, die Gameten, enthalten jedoch nur einen Chromo- somen- und damit Gensatz). Jedes Chromosom enthält daher rund 1.100 Gene (die Schätzungen über die Gesamt-zahl der menschlichen Gene scheint bei 25.000 Genen, also 12.500 Genpaaren, zu liegen). Die Nukleotide stellen dabei, wie die Zeichen eines Morsealphabets, den genetischen Kode dar.
Jedes Gen besteht aus vielen »Wörtern«. Diese sind aus jeweils 3 Nukleotiden zusammengesetzt. Sie werden Triplets oder Kodons genannt. Da 4 verschiedene Nukleotide verwendet werden (. Tabelle 23.1), ergibt dies 43, also 4×4× 4=64 Wörter. Von diesen werden 61 als Anweisungen für die Bildung von Eiweiß aus den 20 im Körper vorkommenden Aminosäuren benutzt, die übrigen Kodons signalisieren Anfang und Ende eines Eiweißmoleküls bzw. Gens.

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12
Q

Umfang der Erbinformation

A

Um einen Eindruck von der Größenordnung der in der DNA verschlüsselten Erbinformation zu geben, sei erwähnt, dass die Gesamtlänge der in einer Menschenzelle als Dop- pelhelix vorliegenden DNA etwa 2 m beträgt. Dies ent- spricht 5,5×109 Basenpaaren. Man würde etwa 1000 Bücher zu je 1000 Druckseiten benötigen, um diese Basensequenz in der abgekürzten Schreibweise (ein Buchstabe pro Base, . Tabelle 23.1) aufzuzeichnen.

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13
Q

Das menschliche Erbgut ist in … Chromoso- men(paaren) enthalten; jedes Chromosom enthält in seinem DNA-Molekül rund … Gene. Die
in den Kodons enthaltene Information, die den Bauplan des gesamten Organismus darstellt, wird bei der Zellteilung unverändert an die …. weitergegeben.

A

Das menschliche Erbgut ist in 23 Chromoso- men(paaren) enthalten; jedes Chromosom enthält in seinem DNA-Molekül rund tausend Gene. Die
in den Kodons enthaltene Information, die den Bauplan des gesamten Organismus darstellt, wird bei der Zellteilung unverändert an die Tochterzellen weitergegeben.

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14
Q

Verdopplung der Doppelhelix bei der Zellteilung

A

Der prinzipielle Mechanismus dieses Vorganges, der Repli- kation genannt wird, ist in . Abb. 23.7a veranschaulicht. An einer bestimmten Stelle des DNA-Stranges kommt es zur Aufspaltung der Doppelhelix in 2 Einzelstränge, von denen jeder unter Berücksichtigung der Basenpaarungs- regel (7 oben) als Matrize für die Synthese eines neuen Strangs dient. Es entstehen 2 neue Doppelhelices, die aus je einem alten und einem neuen Strang bestehen und jeweils das genaue Abbild des elterlichen Stranges darstellen (. Abb. 23.7b). Dieser Vorgang wiederholt sich in jeder nachfolgenden Zellgeneration, sodass der Bauplan des Organismus im Prinzip für alle Zeiten unverändert weiter- gegeben, d. h. vererbt wird.

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15
Q

Auftreten von Replikationsfehlern

A

Die Replikation eines DNA-Stranges ist ein komplexer biologischer Vorgang. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn dabei ab und zu ein »Irrtum« unterläuft und damit eine »falsche« Erbinformation weitergereicht wird. Einen solchen Irrtum nennen wir eine Mutation. Mutationen erbringen veränderte, zusätzliche Allele, die man Poly- morphismen nennt. Mutationen treten völlig zufällig auf, wenn nicht äußere Einflüsse (z. B. radioaktive Strahlung) diese begünstigen. Die meisten Mutationen sind offen- sichtlich »neutral«, d. h. sie haben keinen Effekt auf den Träger der Mutation, andere Mutationen führen zu einer Veränderung im Organismus, die nachteilig gegenüber dem bisherigen Zustand ist, sodass die betroffenen Orga- nismen auf dem Weg der natürlichen Auslese alsbald aus- sterben. Nur sehr gelegentlich erweist sich die neue Vari- ante der alten überlegen und setzt sich gegenüber dieser durch.

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16
Q

Bei der Zellteilung spaltet sich die Doppelhelix in 2 …, die jeweils als Matrize für einen neuen Strang dienen, sodass die nächste Doppel- helix jeweils aus einem elterlichen und einem neuen Strang besteht. Fehler bei diesem Kopiervorgang werden … genannt. Sie können vorteilhaft, nachteilig oder irrelevant sein.

A

Bei der Zellteilung spaltet sich die Doppelhelix in
2 Einzelstränge, die jeweils als Matrize für einen neuen Strang dienen, sodass die nächste Doppel- helix jeweils aus einem elterlichen und einem neuen Strang besteht. Fehler bei diesem Kopiervorgang werden Mutationen genannt. Sie können vorteilhaft, nachteilig oder irrelevant sein.

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17
Q

Rolle der Gene im Alltag

A

Die Bedeutung der Gene für die Weitergabe des elterlichen Erbgutes an die Kinder ist den meisten Menschen bekannt. Viele wissen aber nicht, dass die gleichen Gene auch die alltäglichen Lebensfunktionen der Zellen kontrollieren. Die Gene haben also eine Doppelrolle, nämlich einerseits die eben skizzierte Steuerung der Zellvermehrung bei der Fortpflanzung und bei der Neubildung von Zellen im er- wachsenen Organismus, bei der die bestehenden Chromo- somen sich selbst kopieren, um sich bei der anschließenden Zellteilung auf die beiden entstehenden Zellen zu verteilen, und andererseits die Kontrolle aller Lebensvorgänge in der Zelle. Diese ist chemischer Natur, nämlich über die Synthe- se von Eiweißen, die als Enzyme und als Bausteine der Zell- struktur dienen.

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18
Q

Syntheseeinleitung durch Transkription

A

In einem weitgehend aufgeklärten Prozess, der in stark ver- einfachter Form in . Abb. 23.8 dargestellt ist, wird dazu im Zellkern der Kode der DNA durch die ähnlich aufgebaute RNA »kopiert«. Dieser Vorgang wird Überschreibung oder Transkription genannt. Die RNA bringt dann diese »Bot- schaft« zu den für die Proteinsynthese zuständigen kleinen Organellen, nämlich den Ribosomen, die nur im Elektro- nenmikroskop gesehen werden können und meist an das endoplasmatische Retikulum angelagert sind Diese RNA heißt daher auch Boten-RNA oder mRNA (von »messenger« = Bote).
Andere, relativ kurze RNA-Moleküle, die ebenfalls im Zellkern synthetisiert werden, binden jeweils eine der 20 Aminosäuren der Zelle an sich und transportieren diese zu den Ribosomen. Diese RNA-Moleküle werden daher als Transport- oder tRNA bezeichnet. Sie sind für jeweils eine Aminosäure und das zugehörige Kodon auf der mRNA spe- zifisch.

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19
Q

Synthesevollendung durch Translation

A

n den Ribosomen findet dann, unter Mitwirkung der dort vorhandenen Enzyme und einer dritten Form der RNA, nämlich der ribosomalen RNA oder rRNA, die Synthese von Eiweiß so statt, dass die sehr lange mRNA durch das Ribo- som hindurchwandert und dass dabei, Kodon für Kodon, die im Kode niedergelegten Eiweißmoleküle durch Anein- anderknüpfen der von den tRNA herbeigebrachten Amino- säuren aufgebaut werden. Dieser Prozess wird Übersetzung oder Translation genannt (. Abb. 23.9). Die Proteine sind also das Endprodukt der Gene. Alle anderen Substanzen der Zellen und Organe werden mit Hilfe der aus Eiweiß bestehenden Enzyme aufgebaut.

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20
Q

Mechanismen der Wachstumsbegrenzung und -kontrolle

A

Die Zelldifferenzierung, also die Ausbildung der verschie- denen Arten von Körperzellen (Nervenzellen, Muskel- zellen etc), beruht nicht auf einer Veränderung des Inhalts der Erbsubstanz. Zellen aus der Leber, aus dem Gehirn oder aus einem Muskel enthalten in ihren Kernen alle die gleichen Gene: In ein Froschei, dessen Zellkern man mikro- chirurgisch entfernt hatte, wurde der Zellkern einer Haut- bzw. einer Leberzelle eingepflanzt, und es entwickelte sich daraus ein normales Individuum.
Zur Erklärung dieser Befunde nimmt man, in Anleh- nung an Ergebnisse bei Bakterien, an, dass auch in der tie- rischen, einschließlich der menschlichen Zelle, Stoffe synthetisiert werden, die die Funktion bestimmter Gene ein- oder ausschalten können. Man spricht von Aktivato- ren bzw. Repressoren. Solche Aktivatoren und Represso- ren könnten auch über ihre Zellgrenzen hinaus auf andere Zellen einwirken und dort bestimmte Differenzierungen auslösen (induzieren). Aber es muss hier auch gesagt wer- den, dass wir über die Mechanismen der Wachstumsbe- grenzung und -kontrolle insgesamt noch sehr unvollkom- men unterrichtet sind.

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21
Q

Methode der Erblichkeitsschätzungen in der Verhaltensgenetik

A

Solche Abschätzungen bedeuten nicht, dass es sich um ab- solute und feststehende Werte handelt: Sie können sich von Population zu Population und über die Zeit hinweg ändern. Ändert sich die Population, ändert sich auch die Erblich- keit. Wenn wir also sagen, die Erblichkeit der Körpergröße ist 0,8, so meinen wir, dass 80% der beobachteten Variation in einer definierten Population zu einer bestimmten Zeit auf genetische Differenzen zurückgeht. Wie alle deskrip- tiven statistischen Maße enthält auch dieses Maß eine ge- wisse, abschätzbare Fehlerbreite.
In der Verhaltensgenetik des Menschen werden die Erblichkeitsanteile über den Vergleich von Korrelationsko- effizienten zwischen Eltern und Kindern (additive gene- tische Varianz VG=50%), Halbgeschwistern (VG=25%), Geschwistern (VG=50%), zweieiigen Zwillingen DZ (VG=50%) und eineiigen Zwillingen MZ (VG=100%) abge- schätzt. Hinzu kommt, dass man eineiige und zweieiige Zwillinge vergleicht, die kurz nach der Geburt voneinan- der getrennt und adoptiert wurden und in 2 verschiedenen familiären und physischen Umgebungen aufgewachsen sind. Die letztere Methode ergibt naturgemäß die besten Erblichkeits- und Umwelteinflussschätzungen. Jede der Methoden hat gewisse Fehlerquellen, trotzdem besteht heu- te bezüglich einzelner Merkmale meist eine hohe Überein- stimmung. . Tabelle 23.4 gibt eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse.

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22
Q

Erblichkeitsanteile werden über den Vergleich von …. zwischen Eltern und Kindern abgeschätzt. Je nach Verwandtheitsgrad liegt dieser bei …–50%. Nur eineiige Zwillinge haben einen Koeffizienten von ….%. Getrennt auf- gewachsene eineiige Zwillinge ergeben besonders aussagekräftige Abschätzungen.

A

Erblichkeitsanteile werden über den Vergleich von Korrelationskoeffizienten zwischen Eltern und Kindern abgeschätzt. Je nach Verwandtheitsgrad liegt dieser bei 25–50%. Nur eineiige Zwillinge haben einen Koeffizienten von 100%. Getrennt auf- gewachsene eineiige Zwillinge ergeben besonders aussagekräftige Abschätzungen.

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23
Q

Probleme der Erblichkeitsschätzungen

A

Die Berechnung der Erblichkeit wird in der Forschung meist realisiert, indem die phänotypische Variation (VG) von genetisch identischen Personen (eineiigen Zwillingen) mit der gesamten phänotypischen Varianz (VP) in der na- türlichen, genetisch vielfältigen Population verglichen wird. Der Quotient E=VG/Vp gibt die Anteile der genetischen Va- rianz an den Umgebungseinflüssen wieder. Der Quotient ändert sich natürlich bei jeder neuen Genvariante, bei Epis- tase und Dominanz, und ändert sich natürlich auch mit neuen Umwelteinflüssen. Die Intelligenz steigt z. B. bei fördernden Umgebungsbedingungen besonders stark in wenig privilegierten sozioökonomischen Schichten, ob- wohl der IQ einen hohen Erblichkeitsanteil aufweist.
Wenn Personen über längere Zeit in einer Umgebung leben, die für die Entwicklung eines genetischen Potenzials günstig ist, so werden jene Prozesse, die ein gegebenes genetisches Potenzial im Phänotyp realisieren, verstärkt aktiviert. Der IQ stieg z. B. nach 1945 deutlich an, nachdem vermehrt Kinder armer Kreise gefördert wurden, die das genetische Potenzial maximierten.Nicht ausgedrücktes (= nicht gefördertes) genetisches Potenzial kommt in der Bestimmung von Erblichkeit (E) nicht zum Tragen. Die phänotypische Varianz ist aber nur aus der Interaktion zwischen dem genetischen Potenzial und den sofort nach der Befruchtung einsetzenden, dieses fördernden oder behindernden Umwelteinflüssen ver- ständlich. Die quantitative Messung dieser Interaktion steckt allerdings noch in den Kinderschuhen.

24
Q

Umgebungseinflüsse, die ein gegebenes geneti- sches Potenzial verstärkt realisieren, können zu … der genetischen Varianz führen und vice versa. Erblichkeitsschätzungen beim Men- schen können also durch reziproke Beeinflussung von Genen und Umwelt erheblich verzerrt werden.

A

Umgebungseinflüsse, die ein gegebenes geneti- sches Potenzial verstärkt realisieren, können zu Überschätzungen der genetischen Varianz führen und vice versa. Erblichkeitsschätzungen beim Men- schen können also durch reziproke Beeinflussung von Genen und Umwelt erheblich verzerrt werden.

25
Q

Die Minnesota-Studie

A

In einer über Jahrzehnte dauernden Untersuchung (»Minne- sota Study of Twins Raised Apart« von Lykken und Mitar- beitern) haben die Forscher mehr als 200 eineiige mit zwei- eiigen Zwillingen verglichen, die getrennt voneinander aufgewachsen waren und anlässlich der Untersuchung in Minnesota wieder vereint wurden. Dabei fanden sie für die meisten untersuchten psychologischen und physiologi- schen Merkmale eine extrem hohe Konkordanz (>80%) zwischen den eineiigen Zwillingen. Nach einem additiv- polygenen Modell der Vererbung müsste man annehmen, dass die Eltern von zweieiigen Zwillingen etwas mehr als 50% ihrer Gene an diese weitergeben, sodass diese in poly- gen vererbten Merkmalen eine etwa 50%ige Konkordanz, die eineiigen 90–100% aufweisen müsste. Dies ist für ein- zelne Merkmale wie Körpergröße und IQ auch der Fall.

26
Q

Intelligenz, Erblichkeit und Hirnvolumen

A

In . Abb. 23.13 sind die Beziehungen zwischen Genen, all- gemeiner Intelligenz und Gehirnvolumen dargestellt. Etwa 40–50% der Intelligenz kann genetischen Faktoren zuge- schrieben werden. Die Wirkungen von Genen auf die Hirn- struktur kann man dadurch abschätzen, indem man das Hirnvolumen von Zwillingen und Familien vergleicht und mit der psychometrisch erfassten Intelligenz korreliert: Dabei kann man das Volumen der grauen Substanz (grün), der weißen Substanz (rot) oder der Zentralflüssigkeit (blau) als Parameter korrelieren. Das Gesamtvolumen ist zu 85% vererbt (Pfeil oben links) und korreliert 0,33 mit Intelligenz (Pfeil links unten nach rechts oben). Intelligenz und das Volumen der grauen Substanz hängen zwar von denselben Genen ab, die Korre- lation beträgt aber nur 0,25 (Pfeil links unten nach rechts oben). Allerdings ist diese Korrelation zwischen Volumen der grauen Substanz und Intelligenz über Kortexabschnitte verschieden, die höchste besteht zur Präfrontalregion (rechts in rosa und gelb), v. a. zum dorsolateralen Präfron- talkortex (Arbeitsgedächtnis).

27
Q

Emergente Merkmale

A

ür die meisten untersuchten Merkmale besteht aber eine hohe Konkordanz zwischen den eineiigen Zwillingen, die getrennt aufwuchsen (Box 23.4) und eine extrem kleine zwischen den zweieiigen Zwillingen. Dies kann nur be- deuten, dass Epistase (Abschn. 23.1.3) am Werk ist und bei solchen Eigenschaften eine Neukonfiguration der elterlichen Gene aufgetreten ist, die eine stark von den Genen abhängige Eigenschaft produziert; diese Eigen- schaft war aber in der Familie bisher nicht aufgetreten und wird dies erst wieder mit einer gewissen Wahrschein- lichkeit nach Generationen tun. Daher die Bezeichnung emergente Eigenschaft. Emergente Eigenschaften kom- men von Konfigurationen, nicht aus Summation von Erb- substanz!
Folgende Eigenschaften sind als emergent erkannt worden:
4 EEG-Alpha-Vorzugsfrequenz (Kap. 21),
4 Habituationsrate psychophysiologischer Variablen
(Kap. 22),
4 berufliche und geistige Interessen und Talente,
4 Kreativität (Genialität im Guten wie im Bösen),
4 Stärke des Einflusses auf andere (»social impact«),
4 Extraversion (optimistisch, sozial aufgeschlossen, Ge-
fühl persönlicher Kontrolle, wenig stressanfällig), 4 »gutes« Aussehen.

Insgesamt also zeigt sich eine überraschend »bunte« Mischung von Eigenschaften als emergent. Sowohl Merk- male, die man bisher als stark vererbt angenommen hatte (psychophysiologische Parameter), wie auch Eigenschaften, denen man ein starkes Umweltpotenzial (sozialer Einfluss, Interesse) zuschrieb, erwiesen sich emergenter als ursprüng- lich angenommen.

28
Q

Emergenesis bedeutet, dass ?

A

durch Gen-Konfigura- tionen ein starker genetischer Einfluss entstehen kann, der aber nicht innerhalb von Familien weiter- gegeben wird. Viele menschliche Verhaltensweisen und physiologische Merkmale sind auf Emergenesis zurückzuführen.

29
Q

Physiologische Verbindungen zwischen Zentralnervensystem und Immunsystem 9.2.1 Psychoneuroimmunologie

A

● Abb 9.5 S.167 Wissenschaft von den Wechselwirkungen zwischen Verhalten (»Psycho«), Nervensystem (»Neuro«) und Immunsystem (»Immunologie«).
● Begann mit Forschungen zur Entstehung von Krankheiten nach Belastungen und der Konditionierung von Immunfaktoren
● Die Beziehungen zwischen Nervensystem und Immunsystem sind oft nicht-linear, was es schwierig macht, Ursache-Wirkungs-Verkettungen zu beweisen. Die meisten psychoimmunologisch bedingten Erkrankungen sind indirekt und nicht direkt von psychologischen Einflüssen ausgelöst, z. B. erhöht Fettleibigkeit das Krebsrisiko.

30
Q

Hormone, Neurotransmitter und Immunsystem

A

● Abb 9.6, S.169 Tachykinine begünstigen Organerkrankungen durch stressbedingte Reduktion der Immunkompetenz
● Ein-& dieselben durch Stress ausgeschütteten, immunologisch wirksamen Hormone können
in niedriger Dosierung zu gegensätzlichen Effekten als in hoher Menge führen (Kortisol)
● Katecholamine, die als Kurzzeitreaktion bei Stress ausgeschüttet werden, können die
Balance zwischen T-Helfer- und T-Suppressorzellen verschieben.
● Abb 9.7, S.170 Zytokine (=Zellinteraktionsmoleküle) funktionieren wie Neurotransmitter
und regeln die Tätigkeit des Immunsystems durch Einflüsse auf Hormonausschüttung oder direkte Beeinflussung von Zielzellen im ZNS und Vegetativum. Krankheitsverhalten z. B. wird durch Zytokineinfluss auf das ZNS mitbestimmt.

31
Q

Zentralnervensystem und Immunsystem

A

● Teils direkte, teils indirekte (hormonelle) Kommunikation.
● Der vordere Hypothalamus und Teile des limbischen Systems steuern direkt oder indirekt
einzelne Subkomponenten des Immunsystems. Läsionen des Hypothalamus senken die
Immunkompetenz, Läsionen limbischer Anteile steigern oft die Antikörperantwort.
● Verbindungen zwischen ZNS & IS laufen v.a. über das autonome Nervensystem, sodass
dessen Regulationsorgane auch am IS beteiligt sind: Hypothalamus, limbisches System & autonome Kerne des Stammhirns, (Isokortex)
● Je nach Ort der Hirnläsion oder -dysfunktion kann es zu Abfall oder Anstieg der Immunkompetenz kommen. Das Großhirn übt einen starken Einfluss auf das Immunsystem aus. Akute Läsionen stören die Immunkompetenz und die rechte Hemisphäre wirkt immunsuppressiv.
● Die Aufnahme von immunreaktiven Zellen im Kortex & Hypothalamus beeinflussen die Tätigkeit der Hypothalamus-Nebennierenrinden-Achse: Tage nach Einwirkung eines Antikörpers werden ACTH und Glukokortikoide vermehrt ausgeschüttet, um
ein Überschießen der Immunantwort in der Peripherie zu verhindern.
● Ein regulärer Schlaf-Wach-Rhythmus ist Voraussetzung für ausreichende Kompetenz des Immunsystems.Das Melatonin scheint der Vermittler der zirkadianen Effekte auf das Immunsystem zu sein.

32
Q

Autonomes Nervensystem und Immunreaktion

A

● Die Drüsen und Rezeptoren des Immunsystems werden direkt von autonomen Synapsen und deren Transmitter versorgt.
● Immunkompetente Zellen besitzen Rezeptoren für die Katecholamine des autonomen NS
und Immunzellen stellen Neurotransmitter und Hormone her.
● Mit dem Alter und Verlust des Tiefschlafs und abnehmender noradrenerger Innervation
sinkt die Kompetenz des Immunsystems und steigt die Krankheitsanfälligkeit.

33
Q

Konditionierte Unterdrückung der Immunreaktion

A

Ader und Cohen (Abschn. 9.2.4) paarten einen neutralen CS, saccharinhaltiges Wasser, mit Zyklophosphamid (CY), einer immunsuppressiven Substanz, als US, das den Ratten nach 10–15 min Trinken injiziert wurde. Diese Prozedur wurde an mehreren aneinanderfolgenden Tagen wieder- holt. Die Tiere der Kontrollgruppen erhielten CS (Trinken von saccharinhaltigem Wasser) und US in zeitlich unge- paarten, d. h. ungeordneter Abfolge, z. B. den US vor dem CS oder den US alleine (. Abb. 9.9).
Die Darbietung des CS allein führte nur in der Experi- mentalgruppe, in welcher der CS vor dem US zeitlich ge- paart dargeboten worden war, zu einer deutlichen Reduk- tion der Antikörperzahl bei der Autoimmunkrankheit Lupus erythematosus im Blut der Tiere. Dadurch überleb- ten die Tiere die Autoimmunkrankheit sehr viel länger. Dies, obwohl alle Tiere dieselbe Menge von CY erhalten hatten und bei der Immunisierung die Bedingungen für alle Tiere gleich sind. Entscheidend war also die Lerngeschichte (CS wird kurz vor US dargeboten) und nicht die objektiv physiologisch zu erwartende Immunreaktion! Dasselbe wurde für zelluläre Immunantworten gezeigt, die sich der T-Lymphozyten bedienen.

34
Q

Konditionierung der Abstoßungsreaktion

A

Natürliche Killerzellen-Aktivität, Lymphozytenprolifera- tion, verschiedene Immunglobuline, T-Helfer- und Suppres- sorzellen, arthritische Entzündung u. a. immunologische Reaktionen konnten klassisch konditioniert werden. Die erzielten Effekte sind nicht auf Stressfaktoren und die Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse zurückzuführen, die für sich allein genommen Immunsuppression oder -verbesserung bewirken können.
Seit diesem Experiment sind mehr als 100 Untersu- chungen erschienen, welche die Konditionierbarkeit einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Immunreaktionen auch am Menschen zeigen konnten. Sowohl Anstieg wie Abfall der Immunkompetenz verschiedener immunologischer Zell- gruppen als auch die Lernbarkeit der Abstoßungsreaktion auf körperfremdes Gewebe wurde an verschiedenen Tier- arten und am Menschen demonstriert. Zum Beispiel wur- den Tieren, die in der oben beschriebenen Art und Weise auf saccharinhaltiges Wasser konditioniert wurden, kör- perfremde Leukozyten am Testtag bei gleichzeitiger Dar- bietung des CS alleine injiziert (mit den in . Abb. 9.9 abge- bildeten Kontrollbedingungen). Dies führte schon nach wenigen Konditionierungsdurchgängen zu fast völliger Un- terdrückung der Abstoßungsreaktion, auch ohne Gabe des immunsuppressiven US.

35
Q

Lupus erythematodes und Lernen

A

Beim Lupus erythematodes werden u. a. Autoantikörper gegen im Blut zirkulierende Antigene gebildet. Daraus ent- stehen Antigen-Antikörper-Verbindungen, die sich v. a. im Gefäßsystem, der Haut, der Niere und den Gelenken ab- lagern und diese zerstören.
Normaltiere lernen sehr rasch eine Vermeidungsreak- tion (z. B. in eine bestimmte Käfigecke laufen), wenn sie damit der Einnahme oder Injektion von Zyklophosphamid entgehen können. Tiere mit Lupus aber lernen sehr viel langsamer, wenn sie eine instrumentelle Vermeidungsreak- tion (Kap. 25) auf Zyklophosphamid entwickeln sollen; sie nehmen also mehr Zyklophosphamid »in Kauf«, so als würden sie »erkennen«, dass der immunsuppressive Effekt dieser Substanz günstig den Verlauf der Krankheit beein- flusst oder als würden sie erkennen, dass die Vermeidung von Zyklophosphamid, das zu Übelkeit führt, die Krank- heitsprogression beschleunigt. Dies zeigt, dass Lernen an der Aufrechterhaltung der körperinternen Homöostasen beteiligt ist.
Die Tiere bevorzugen auch in der klassischen Kondi- tionierung Gerüche als CS (unabhängig, ob »gut« oder »schlecht« riechend), die das Auftreten von Zyklophos- phamid signalisieren und vermeiden Gerüche, die das Fort- schreiten der Krankheit, z. B. Entzug von Zyklophospha- mid, anzeigen. Das Verhalten des Organismus spiegelt den Zustand seines Immunsystems wider, womit z. B. in diesem Fall durch das Verhalten das Auftreten der Krank- heitssymptome (z. B. Lymphadenopathie) deutlich ver- zögert oder überhaupt beseitigt wird.

36
Q

Kompensatorische Konditionierung und Immunantwort

A

Diese kompensatorische konditionierte Reaktion erfolgt nach Konditionierung, also Paarung von CS und US auf Darbietung des CS allein (ohne US) und sie kompen- siert antizipatorisch den antihomöostatischen Effekt des US (Unterdrückung der Immunantwort). Die antizipato- rische kompensatorische Immunantwort hilft, die Homö- ostase wiederherzustellen.
In »Erwartung« eines die Homöostase störenden Ef- fekts kann es zu sehr starken Gegenreaktionen kommen: Der »evolutionäre Zweck« von klassischer Konditionierung besteht ja gerade darin, plastisch und voraussehend auf Anpassungsstörungen zu reagieren. Deshalb kann ein- und derselbe Reiz, je nach seiner Lerngeschichte und je nach der physiologischen Funktion der konditionierten Reaktion 2 gegensätzliche physiologische Antworten erzeugen. Wie wir in Kap. 26 zeigen werden, ist kompensatorische Kondi- tionierung besonders für die Entwicklung von Sucht wich- tig; aber auch die Immunantworten muss man stets darauf prüfen, ob sie gleichsinnige oder gegensinnige Reaktionen auf Umgebungsreize ausbilden.

37
Q

Stress und Immunsystem

A

Kurzfristiger Stress führt vorerst zu einem Anstieg der Immunkompetenz, die vom autonomen NS verursacht wird; nach 30–60 Minuten kommt es zur Ausschüttung der Glukokortikoide (Kap. 7 und 8). Die Glukokortikoide bewirken, dass die Immun- reaktionen wieder auf ihre Ausgangswerte zurückkehren. Ohne die Stresshormone würde es zu einer sich aufschau- kelnden Spirale pathologischer Überaktivierung vieler Im- munantworten und damit zu Autoimmunkrankheiten kommen (»Bremswirkung« der Glukokortikoide).
Bei der Vorhersage der Wirkungen von Stress auf das Immunsystem muss man stets auch an kompensatorische Lerneffekte denken, die das Verhalten des Immunsystems ins Gegenteil verkehren können: z. B. fand man bei Prü- fungsstress manchmal Absinken und manchmal Anstieg protektiver Immunantworten wie z. B. von CD4+-Lym- phozyten, je nachdem, ob man die Probanden in derselben Situation (CS) des Prüfungsortes, oder einem völlig neuen Ort untersuchte: beim Wiederaufsuchen des Prüfungsortes (oder Vorstellung desselben) ohne Prüfung (CS alleine) trat CD4+-Anstieg (kompensatorisch) auf, während der Prü- fung selbst kam es zu CD4-Abfall.
Subjektiv erlebter Prüfungsstress führt zu Modifikation des molekular gesteuerten Zellsuizids (»Apoptose«). Apop- tose ist ein Prozess innerhalb von Zellen, bei dem Brüche oder Beschädigungen der DNA (nach Strahlung oder ande- ren Einflüssen) zu einer Selbstzerstörung der Zelle führen. Damit werden defekte DNA-Reparaturen eliminiert. Es wird angenommen, dass chronischer Stress Apoptose redu- ziert und damit zur Anhäufung von Gendefekten mit nach- folgenden Krebsgeschwüren oder anderen Zelldefekten führt.

38
Q

Depression und Angst

A

Depressionen und Angst erhöhen die Produktion proin- flammatorischer Zytokine, v. a. IL-6. Die NK-Aktivität und Lymphozytenzahl ist reduziert. Lange anhaltendes hohes Niveau von proinflammatorischen Zytokinen begünstigt Altern, kardiovaskuläre Erkrankungen, Osteoporose, Arth- ritis, Typ-2-Diabetes, einige lymphoproliferative Krebs- arten wie Myelome, Lymphome, chronische lymphozytäre Leukämie, Alzheimersche Erkrankung und Zahnfleischer- krankungen.
Personen mit erhöhtem IL-6, das die Produktion des sog. C-reaktiven Proteins anregt, haben ein bis zu 3-fach erhöhtes Herzinfarkt- und Embolierisiko. Bei Angst wird IL-6 durch die Stimulation von β-adrenergen Rezeptoren im autonomen Nervensystem produziert. IL-6 ist selbst wieder ein potenter Stimulator der Kortikotropin-Releas- ing-Hormone und verstärkt noch die ohnehin schon be- stehende Überproduktion von Kortisol bei chronischen Depressionen. Das Steigen des Kortisolniveaus kann selbst wieder depressive Symptome erzeugen und somit einen Circulus vitiosus aus Zytokininproduktion/Hyperkortiso- lismus und Depressionen verursachen.

39
Q

Depression und IL-6

A

Das genetische Risiko für Depression und für Dysregula- tion des endokrinen und immunologischen Systems hängt offensichtlich mit Genen zusammen, die die zirkadiane Periodik regeln: Personen, die in den ersten drei Tief- Schlafphasen zu wenig Wachstumshormon ausschütten, haben ein erhöhtes Risiko in Zukunft an Depression zu er- kranken. Es ist daher nicht verwunderlich, dass IL-6 einer der besten Prädiktoren für Erkrankung und Tod im Alter darstellt. 6 Jahre nach der Diagnose einer Depression bei älteren weiblichen Patienten waren bereits 73% im Ver- gleich zur Kontrollgruppe schwer behindert (in der Kon- trollgruppe nur wenige).
Die immunologischen Risikofaktoren haben in der Regel denselben Vorhersagewert für Überleben wie die be- kannten Standardrisikofaktoren hohes Cholesterinniveau, Rauchen, Bewegungsarmut und Übergewicht und existie- ren unabhängig von diesen. Da aber die Standardrisikofak- toren meist mit Depression korreliert sind, steigt die Mor- talität und Morbidität bei Personen mit beiden Risikofak- torgruppen noch um das Vielfache.

40
Q

Sozialpsychologische Faktoren der Vulnerabilität des Immunsystems

A

Die Verletzlichkeit (Vulnerabilität) des Immunsystems durch psychologische Einflüsse ist früh und spät im Leben erhöht. Früher Missbrauch, Armut und Entwurzelung führt zu höherem Risiko späterer Depression, Krankheit und Lebensverkürzung durch Immunsuppression oder Entzün- dung. Im Alter wird die Vulnerabilität durch Verlust sozia- ler Stützung und das geschwächte Immunsystem und den teilweisen Verlust von Tiefschlaf und GH-Anstieg und Kortisolunterdrückung verstärkt. Sozioökonomisch niedrige soziale Schichten weisen ein erhöhtes Risiko für immunbedingte Störungen auf, aber auch Personen, die ihren sozialen Rangplatz (z. B. durch Arbeits- losigkeit, Vertreibung, Emigration, Katastrophen) verlieren.
Persönlichkeitsfaktoren und Bewältigungsstile haben bedeutsame Einflüsse auf das Immunsystem und Krank- heit. Als wichtiger Faktor wurde Typ D identifiziert: Nei- gung zu Depression, negative Gedanken, soziale Hemmung und Feindseligkeit (früher auch als kardiovaskulärer Risiko- faktor Typ A genannt, Kap. 10). Im Gegensatz dazu sind positive Gefühle, Optimismus, positive Umdeutung von Belastung und Stress (positive Illusionen) risikosenkend.
Soziale Isolation, Trennung und Partnerverlust (letz- terer besonders bei Männern) beeinträchtigen eine Vielzahl von Immunfunktionen und beschleunigen den Ausbruch und Verlauf von AIDS, beeinflussen negativ Knochenmark- transplantation und Immunreaktionen auf Impfung.

41
Q

Autoimmunerkrankungen Unbewältigbare Lebensereignisse

A

Die Bedeutung von Lernen im Immunsystem haben wir bereits im Abschn. 9.3.1 am Beispiel der Autoimmun- erkrankung Lupus erythematodes besprochen. Manche der heute bekannten Autoimmunerkrankungen, bei denen das Immunsystem auf seine eigenen Antigene reagiert, wurden früher als psychosomatische Krankheiten bezeich- net. Man behauptete – meist in der Tradition psychoanaly- tischer Glaubensbekenntnisse – dass psychische Konflikte zu einer Autoaggression gegen den eigenen Körper führen würden. Heute wissen wir, dass Autoimmunerkrankungen auftreten, wenn das Immunsystem gegenüber körper- eigenen Antigenen, die ja stets vorhanden sind, intolerant wird und Antigen-Antikörper-Komplexe in bestimmten Geweben ablagert; diese, zusammen mit sog. Komplement- bildung (Abschn. 9.1.3), führen zu Entzündungen der Blut- gefäße, Gelenke, Niere, Lunge, Haut, des endokrinen und gastrointestinalen Systems und des ZNS.
Obwohl der Ort und Mechanismus, an dem die phy- siologischen Begleitreaktionen emotionaler Prozesse die Toleranz des Immunsystems gegenüber spezifischen kör- pereigenen Antigenen zerstören, unbekannt ist, fällt auf, dass die ersten Manifestationen und Verschlechterungen sehr häufig von bedeutsamen und unbewältigten negati- ven Lebensereignissen (»life-events«) ausgelöst werden; in der rheumatoiden Arthritis in 85% der Fälle. Sowohl in der rheumatoiden Arthritis wie beim Lupus erythematodes und Überfunktion der Schilddrüse (Morbus Basedow) ver- schlechtern depressive Verstimmungen das Krankheitsbild. Ähnliche Zusammenhänge zwischen unbewältigten Belas- tungen und Depression wurden bei der Colitis ulcerosa und beim Morbus Crohn gefunden, schubartig verlaufenden Entzündungen und Blutungen des Darmes. Unklar bleibt, ob die psychischen Veränderungen immer den Krankheits- schüben vorausgehen oder nur (verständliche) Begleiter- scheinungen darstellen.

42
Q

Asthma bronchiale

A

Asthma besteht aus verschiedenen heterogenen Erkran- kungen, die eine gemeinsame Symptomatik, nämlich an- fallsartige, exzessive Konstriktion der Bronchien und Bron- chiolen aufweisen. . Abb. 9.14 gibt einen zusammenfassen- den Überblick der beteiligten physiologischen Vorgänge. Asthmatiker mit einer starken psychologischen Kompo- nente weisen erhöhte parasympathische Reaktionen der glatten Muskel der Bronchien bei emotionalen Reizen auf, und ihre Bronchokonstriktion ist leichter klassisch kondi- tionierbar; sie sprechen therapeutisch besser auf psycholo-gische Therapien an als diejenigen mit einer allergisch be- dingten. Bei vielen Patienten überlagern sich aber die zwei Ursachefaktoren wie auf . Abb. 9.14 sichtbar. Im oberen Teil sind die immunologischen Einflussfaktoren, im un- teren die autonom-emotionalen wiedergegeben.
Beim kindlichen Asthma spielen in 30% der Fälle lern- psychologische Faktoren die entscheidende Rolle. Kurzfri- stige Trennung von den Eltern führt bei dieser Subgruppe zu wesentlichen Besserungen, da instrumentelle Lernpro- zesse (Zuwendung, Vermeidung ungewollter Tätigkeiten) von Seiten der Eltern die Bronchokonstriktion aufrecht er- halten. 30% der Fälle weisen allergische Reaktionen, meist jahreszeitlich bedingt auf, und Trennung von den Eltern hat konsequenterweise keinen Effekt. Bei den übrigen Kindern sind infektiöse Ursachen verantwortlich.

43
Q

Alzheimer-Erkrankung, Altern und Autoimmunität

A

Die Tatsache, dass Antikörper spezifische Veränderungen im ZNS und im Verhalten auslösen können, hat den Verdacht verstärkt, dass auch die Alzheimer-Erkrankung und andere chronische neurologische Krankheitsbilder entweder mit der Schwächung der Immunkompetenz im Alter oder einem spezifischen entzündlichen Autoimmunprozess, ähnlich dem Lupus erythematodes, der multiplen Sklerose oder der Myasthenia gravis zusammenhängen könnten.Dabei existiert eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie und wo das Immunsystem das ZNS schädigen kann. Als wahrscheinlicher Mechanismus werden Hirnantikörper im Serum, in der Zerebrospinalflüssigkeit (CSF) oder im Ge- hirngewebe selbst angenommen, die mit Hirnantigenen reagieren, Antigen-Antikörper-Komplexe bilden und Hirn- gewebe zerstören. Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl der Hirnantikörper, die an Hirngewebe binden, von 12% im Alter von 30 Jahren auf 74% im Alter von 65–70 Jahren, wobei dieser Anstieg bei der Alzheimer-Erkrankung noch ausgeprägter ist. Besonders Immunglobuline, die die choli- nerge synaptische Übertragung angreifen und wesentlich für den Gedächtnisverlust verantwortlich sind, wurden ge- funden (Abschn. 25.4.3). Auch die Tatsache, dass entzün- dungshemmende Medikamente wie Aspirin in einigen Un- tersuchungen den Verlauf der Erkrankung verlangsamten, könnte ein Indiz für einen immunologischen Prozess sein.

44
Q

An der Alzheimer-Erkrankung sind entzündliche Vor- gänge beteiligt, die durch den Verlust von …. und dem Anstieg von …. im Alter begünstigt werden.

A

An der Alzheimer-Erkrankung sind entzündliche Vor- gänge beteiligt, die durch den Verlust von Immun- kompetenz und dem Anstieg von Hirnantikörpern im Alter begünstigt werden.

45
Q

Der genetische Code

A

Oft wird übersehen, dass sich Genetik und Epigenetik auch mit der Mitose befassen. Sie findet ständig in Geweben statt, die sich regenerieren und erneuern. Daher betrifft sie nicht die Weiterga- be von Informationen an Nachfahren, sondern beispielsweise von einer Blutstammzelle an die davon abstammenden Blutzellen.
In jedem der winzigen Zellkerne befinden sich zwei Meter DNA, verteilt auf 46 Chromosomen. Bei rund zehn Billionen Zellen im Körper sind dies 20 Billionen Meter DNA. Proteinbündel namens Nukleosomen sortieren und verpacken die DNA im Zellkern: Die DNA wickelt sich um diese Gebilde wie ein Kabel um Kabeltrom- meln. Gemeinsam bilden Nukleosomen und DNA das Chromatin. Der genetische Code besteht aus vier „Buchstaben“, die für die Basen Adenin (A), Thymin (T), Guanin (G) und Cytosin (C) stehen. In ihrer Abfolge steckt der Bauplan des Lebens, die codierte Struk- tur für alle Proteine im menschlichen Organismus. Dabei enthält jeweils ein Basentriplett den Code für eine Aminosäure in einem Protein.
Jede Zelle produziert genau die Proteine, die sie benötigt. Die Pro- teinbiosynthese funktioniert nach folgendem Schema: Im Zell- kern wird der DNA-Code auf eine Boten-RNA (mRNA) übertragen (Transkription). Diese verlässt den Zellkern nach einigen Um- wandlungen und bindet an ein Ribosom. Dort wird der Code in ein Protein übersetzt (Translation). Das Geheimnis der Vererbung liegt im simplen, aber genialen Aufbau des DNA-Moleküls. Indem es wie ein Reißverschluss auftrennbar ist, kann der fehlende Strang ersetzt werden und es entstehen zwei identische DNA- Moleküle. Auf diese Weise kann eine Zelle ihre Informationen an Tochterzellen weitergeben.

46
Q

Der Gipfel des Genhypes

A

All diese Kenntnisse über Vererbung haben Genetiker in den fünf Jahrzehnten zwischen 1953 und 2003 gewonnen. Schon im Jahr 2000 war die Euphorie grenzenlos: Man dachte, die Kenntnis des DNA-Codes sei das Substrat für alle essenziellen Lebensvorgänge und der Schlüssel zur Behandlung jeder Krankheit. Das Schicksal schien genetisch determiniert zu sein; an den Einfluss der Um- welt und die Bedeutung der Genregulation dachte damals kaum jemand. Heute sagt Craig Venter: „Im Rückblick waren wir so naiv, dass es fast schon peinlich ist.“ Hinter dieser Feststellung stehen viele unerfüllte Versprechungen und unbeantwortete Fra-gen: Wo sind die vielen versprochenen Medikamente? Warum sind Menschen und Schimpansen so unterschiedlich, obwohl sie genetisch zu 98,7 % identisch sind? Warum machen Gene nur 1,5 % unseres Erbgutes aus, sind die restlichen 98,5 % tatsächlich über- flüssig? Und warum hat der Mensch so wenig Gene wie ein Fadenwurm? Fadenwürmer haben 20 000 Gene, der Mensch hat etwa 21500 Gene und den Weltrekord hält der Wasserfloh mit 31 000 Genen

47
Q

Der epigenetische Code

A

Bei der Genregulation spielen epigenetische Schaltersysteme eine große Rolle. Leber-, Nerven- oder Darmzellen sind genetisch zwar identisch, haben aber unterschiedliche Funktionen. Diese Unterschiede sind auf der Ebene der Epigenetik gespeichert, die man als Neben-, Über- oder Zusatzgenetik übersetzen könnte. Ihre Werkzeuge sind epigenetische Schaltersysteme. Die Gesamt- heit der epigenetischen Schalter einer Zelle nennt man ihr Epige- nom. Es bestimmt, welche Gene in einer Zelle dauerhaft aktivier- bar sind oder nicht und gibt ihr im Lauf der biologischen Ent- wicklung eine Identität [3].
Außerdem verleihen epigenetische Schalter der Zelle eine Art Ge- dächtnis: Umwelteinflüsse jeder Art können bewirken, dass die Zelle einen bestimmten Zustand speichert, indem sie Schalter umlegt. Dieser Zustand bleibt auch dann erhalten, wenn der Reiz wegfällt. Beispielsweise entscheidet die Umwelt, ob eine Zelle zur Leberzelle wird. In diesem Fall entspricht die Umwelt dem Körper und der nächsten Umgebung der Zelle. Hormone oder Botenstoffe aus der Nachbarzelle sind aus deren Sicht die maßgeblichen Umweltsignale. Ähnlich wirken aber auch äußerli- che Umwelteinflüsse, etwa traumatische Erlebnisse oder eine be- stimmte Ernährung. Epigenetische Schalter können darüber hi- naus im Rahmen der mitotischen Zellteilung an Tochterzellen vererbt werden. Auf diese Weise kann sich eine befruchtete Eizel- le während der frühkindlichen Entwicklung zum fertigen Orga- nismus an die Umwelt anpassen, und diese Information wird an alle Tochterzellen weitergegeben. Das erklärt, warum epigene- tisch manifestierte frühkindliche Erfahrungen bis ins hohe Alter erhalten bleiben können. So entscheidet beispielsweise die Er- nährung der Mutter in der Schwangerschaft mit darüber, ob ein Kind später ein erhöhtes Risiko hat, an Diabetes zu erkranken oder nicht.
Anders als genetische Mutationen sind epigenetische Verände- rungen jedoch potenziell reversibel. Der Mensch kann seine Um- welt gezielt verändern, sich anderen Situationen aussetzen, einen anderen Lebensstil wählen und damit zumindest theore- tisch einige epigenetische Schalter zurückstellen

48
Q

Die epigenetischen Schaltersysteme

A

Ein Organismus besitzt ein Genom, aber tausende Epigenome. Es gibt etwa 200 verschiedene Zelltypen, und jeder Zelltyp sowie viele Zellen innerhalb eines Gewebes sind unterschiedlichen Um- welteinflüssen ausgesetzt. Aus einem Genom mit seinen assozi- ierten Strukturen entstehen daher unzählige Epigenome.

49
Q

Für das epigenetische Programm einer Zelle sind nach heutigem Wissen drei biochemische Schalterstrukturen besonders wich- tig:

A
  1. DNA-Methylierung
  2. Histoncode
  3. Nichtcodierende RNA
50
Q
  1. DNA-Methylierung

Wichtig !

A

Enzyme namens DNA-Methyltransferasen (DNMTs) können CH3- Gruppen an Cytosinbasen der DNA anlagern (●” Abb.1). Dies er- folgt zumeist in Regionen der DNA, in denen sich die Basen Cyto- sin und Guanin abwechseln. Diese Regionen heißen CpG-Inseln. Beide Basen kommen immer gepaart vor. Lautet die Sequenz des einen DNA-Strangs CGCGC, heißt der andere GCGCG. Die DNA ist damit immer an beiden Strängen methyliert – ein Mechanismus, der garantiert, dass das Muster der Methylierung vollständig ver- erbt wird. Denn wenn sich der DNA-Strang teilt, geht die epige- netische Information auf beide Tochterzellen über, die jeweils einen der Stränge erhalten. Im Allgemeinen sorgen DNA-Methy- lierungen an der betroffenen Stelle für eine Unterdrückung der Genaktivität. Sie wirken wie Riegel, die Gene abschalten. Diese Regel gilt jedoch nicht immer. Inzwischen wurden potenzielle Wirkstoffe gefunden, die DNA-Methyltransferasen hemmen (DNMT-Hemmer) und sich beispielsweise für den Einsatz in der Krebstherapie eignen bzw. eignen könnten.

51
Q
  1. Histoncode
    WICHTIG !
A

Das zweite wichtige epigenetische Schaltersystem ist der Histon- code. Die DNA ist auf Eiweißkügelchen namens Nukleosomen aufgewickelt, die aus acht Histonmolekülen zusammengesetzt sind. Zwei Typen dieser Histone haben Schwänze, die aus dem Molekül herausragen. Sie können biochemisch an verschiedenen Stellen mithilfe von Enzymen methyliert, phosphoryliert, acety- liert oder anderweitig verändert werden. Bisher sind etwa 50 verschiedene Modifikationen an den Histonen bekannt und lau- fend werden neue entdeckt. Neben anderen Aufgaben beeinflus- sen sie die Packungsdichte der DNA. Je enger diese an einer be- stimmten Stelle ist, desto schlechter können dortige Gene abge- lesen werden.
Dicht verpacktes Chromatin heißt Heterochromatin; hier befin- den sich reichlich methylierte Histone. Locker aufgewickeltes Chromatin heißt Euchromatin; hier tragen die Histone besonders viele Acetylgruppen. Entfernt ein Enzym aus der Gruppe der His- tondeacetylasen (HDACs) die Acetylgruppen, entsteht dichtes Heterochromatin, an dem kein Gen mehr abgelesen werden kann. Auch hier gibt es erste Ansätze für Medikamente, die His- tondeacetylasen hemmen (HDAC-Hemmer) und damit stillgeleg- te Gene wieder aktivieren können.

52
Q
  1. Nichtcodierende RNA

WICHTIG

A

98,5 % der DNA sind keine Gene und wurden lange für Junk, also Abfall gehalten. Dies war ein Irrtum: Wissenschaftler entdecken immer mehr Abschnitte, deren Code anderen Stellen im Genom ähnelt. Diese Abschnitte codieren für Nichtcodierende RNA. Bei ihrem Ablesen entsteht keine mRNA, die später in Eiweiß über- setzt wird, sondern Mikro-RNA. Diese kurzen, DNA-ähnlichen Moleküle bilden nach einigen Zwischenschritten gemeinsam mit spiegelbildlich dazu passenden mRNAs eine doppelsträngige RNA, die aussieht wie das Erbgut eingedrungener Viren. Die Zelle behandelt sie entsprechend und zerstört damit nicht nur die Mi- kro-RNA, sondern auch die passenden mRNAs. So behindern Mi- kro-RNAs gezielt die Übersetzung eines Gens in ein Protein. Es handelt sich genau genommen also um keine Hemmung der Transkription wie bei den anderen epigenetischen Schaltern, sondern um eine posttranskriptionale Hemmung.
Für die Entdeckung dieser Kontrollmöglichkeit der Genaktivität wurde 2006 der Nobelpreis für Medizin verliehen. Die Preisträger Craig Mello und Andrew Fire nannten den Mechanismus RNA-In- terferenz, weil sich Boten- und Mikro-RNA gegenseitig ausschal- ten. Inzwischen weiß man, dass das Prinzip der RNA-Interferenz in fast allen Organismen vorkommt. Hunderte von Mikro-RNAs sind seit Jahrmillionen im Einsatz, um die Genaktivität nicht nur an- oder auszuschalten, sondern fein abgestuft herauf- oder he- runterzuregeln.
Auch hier gibt es medikamentöse Ansätze: Erprobt werden bei- spielsweise künstliche Mikro-RNAs, die in einer Zelle ein Gen ge- zielt abschalten oder herunterregulieren. Alternativ kann die Bil- dung einer Anti-Mikro-RNA körpereigene Mikro-RNAs stumm schalten und Gene heraufregulieren, deren Übersetzung der Kör- per behindert.

53
Q

Von der Raupe zum Schmetterling

A

In der Natur gibt es viele Meisterstücke des epigenetischen Sys- tems. Eines ist die Verwandlung der Raupe zum Schmetterling. Beide haben das gleiche Genom, aber unterschiedliche Epigeno- me. Während der Metamorphose erfolgt in den meisten Zellen ein epigenetischer Umbau im großen Maßstab: Viele Schalter werden umgelegt, bis der Schmetterling entsteht.
Die Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling folgt einem festen, immer ähnlich ablaufenden Entwicklungspro- gramm (ontogenetisches Programm) (●” Abb.2). Es gibt aber auch viele Beispiele, die auf einer Interaktion zwischen Erbe und Umwelt beruhen.
Weltmeister in puncto phänotypischer Plastizität ist der Wasser- floh. Das bedeutet: Er vermag sein Aussehen je nach Umweltbe- dingungen in mehrfacher Weise zu verändern. Sinkt beispiels- weise der Sauerstoffgehalt im Wasser, verändert sich sein Blut- farbstoff so, dass er mehr Sauerstoff binden kann. Und befinden sich viele Fressfeinde, etwa Mückenlarven, im Wasser, wachsen der nächsten Generation Dornen. Mit dieser Erweiterung sind sie zu groß, um von den Mückenlarven gefressen zu werden. Die Dornenbildung ist jedoch energieaufwendig und erfolgt nur so lange wie nötig. Sinkt die Zahl der Mückenlarven im Wasser, ist die nächste Generation Wasserflöhe wieder dornenfrei, um Ener- gie zu sparen [2].
Weitere Beweise, dass Umweltreize die Aktivierbarkeit von Ge- nen dauerhaft verändern können, liefert die Kastenbildung bei den Ameisen. Obwohl sie genetisch identisch sind, leben in je- dem Staat verschiedene hoch spezialisierte Arten von Arbeiterin- nen. Vermutlich programmieren Signale wie Duftstoffe, Tempe- ratur oder Luftfeuchtigkeit das Epigenom der jungen Ameisen und bestimmen, zu welcher Kaste eine Ameise später gehört

54
Q

Gelée Royale für die Königin

A

!
Paradebeispiel für den Einfluss von Nahrung auf einzelne Epige- nome sind die Honigbienen: Wenn sie schlüpfen, sind sie gene- tisch identisch und haben alle das Potenzial, Arbeiterin oder Kö- nigin zu werden. Die Entscheidung fällt drei Tage später. Bis da- hin werden alle mit Gelée Royale gefüttert, danach bekommt der größte Teil zusätzlich Pollen und Nektar. Nur wenige Larven be- kommen weiterhin ausschließlich Gelée Royale – und diese wer- den später Königinnen. Damit gehen dramatische epigenetische Veränderungen einher: Arbeiterinnen sind kurzlebig, bleiben un- fruchtbar und haben ein anderes Verhalten als Königinnen. Un- tersuchungen zufolge sind rund 1500 Gene in Gehirnzellen der Königin anders methyliert als bei Arbeiterinnen. Das beweist ne- benbei, dass Umweltsignale auch psychische Veränderungen auslösen können, die sich molekularbiologisch in Form epigene- tischer Veränderungen an der DNA bestimmter Gehirnzellen festmachen lassen [5].

55
Q

Erbe und Umwelt bestimmen den Phänotyp
!

A

Solche Prozesse finden – weniger dramatisch – auch beim Men- schen statt. Sehr viele Umwelteinflüsse, die von der Zeugung bis zum Tod auf die Zellen einwirken, schlagen sich vermutlich ir- gendwo epigenetisch nieder. Diese These bestätigen Epigenetik- Studien an eineiigen Zwillingspaaren: Je älter sie sind, desto stär-ker unterscheiden sie sich. Und je verschiedener die Lebensum- stände, desto unterschiedlicher sind ihre Epigenome. Das hat teils drastische Folgen für die Gesundheit: Bei einem untersuch- ten Zwillingspaar war die eine an Brustkrebs erkrankt, die andere gesund. Bei einem anderen Paar hatte die eine Typ-2-Diabetes, die andere nicht [6].
Gut erklären kann man solche Beobachtungen mit dem alten Konzept der epigenetischen Landschaft, das der Entwicklungs- biologe Conrad Waddington bereits in den 1940er-Jahren ent- worfen hat (●” Abb.3). Es veranschaulicht den Einfluss von Erbe und Umwelt auf die Entwicklung eines Lebewesens: Demnach rollt der Mensch im Lauf des Lebens wie eine Murmel eine ab- schüssige Landschaft mit vielen Tälern herab. Das Landschaftsre- lief wird von den Genen vorgegeben, aber wohin die Murmel rollt, ist abhängig von Umwelteinflüssen [7].
Dabei können Umwelteinflüsse aller Art den Menschen dauer- haft verändern. Ein starkes Umweltsignal ist zum Beispiel das Kli- ma: Bei der Geburt haben alle Babys die gleiche Zahl an Anlagen für Schweißdrüsen in der Haut. Wie viele davon aktiviert werden und wie viele abgeschaltet bleiben, hängt vom Klima in den ers- ten drei Jahren ab. Wer in heißem Klima aufwächst, schwitzt spä- ter mehr als Menschen aus kühlen Regionen – eine epigeneti- sche, sinnvolle Anpassung. Ziehen überfürsorgliche Eltern ihrem Kind auch im Sommer Wollsocken an und heizen die Wohnung besonders gut, ist allerdings zu erwarten, dass die Kinder später Schweißfüße haben.
Der Genforscher Rudolf Jaenisch vom Whitehead Institute in Bos- ton, USA, bringt es auf den Punkt: „Das Epigenom ist die Sprache, in der das Genom mit der Umwelt kommuniziert.“ Die Erkennt- nisse zur Epigenetik beenden die jahrhundertealte Diskussion, ob Erbe oder Umwelt den Menschen prägen. Beide sind keine Ge- gensätze, sondern beeinflussen sich wechselseitig. Das erklärt, warum es beispielsweise so entscheidend ist, was und wie viel der Mensch isst, wie häufig er sich entspannt und ob er ausrei- chend schläft (●” Abb.4). Solche Umweltsignale prägen den Zell- stoffwechsel vor allem in Phasen, in denen die Organe noch rei- fen, also im Mutterleib, nach der Geburt und bis zur Pubertät. Aus diesem Grund können präventive Maßnahmen in diesen Zeit- fenstern besonders effektiv sein [1].

56
Q

Ernährung beeinflusst das epigenetische System

A

Der Genforscher Moshe Szyf, Universität Montreal, beschreibt die Bedeutung der Epigenetik so: „Wir können eine Brücke schlagen zwischen sozialen und biologischen Prozessen. Das ändert unse- re Sicht des Lebens total.“ Anders ausgedrückt sorgen positive epigenetische Weichenstellungen für einen gesunden Stoffwech- sel und unterstützen eine ausgeglichene Persönlichkeit, vor al- lem wenn sie früh im Leben fallen. Was dies konkret heißt, for- mulierte Randy Jirtle von der Duke University in Durham, USA: „Die meisten Krankheiten entstehen nicht erst im Erwachsenen- alter. Ihr Ursprung liegt oft in den frühesten Entwicklungssta- dien, direkt nach der Befruchtung.“
Randy Jirtle war zusammen mit Robert Waterland der verant- wortliche Wissenschaftler bei einem erfolgreichen epigeneti- schen Experiment. Er arbeitete mit Yellow-Agouti-Mäusen: sie besitzen eine Gen-Mutation, die sie gelb, übergewichtig und krankheitsanfällig werden lässt. Jirtle fütterte einen Teil trächti- ger Yellow-Agouti-Mäuse mit großen Mengen bestimmter Nah- rungsergänzungsmittel, der andere Teil erhielt normales Futter. Tatsächlich kamen die genetisch identischen Jungen der beiden Gruppen mehrheitlich unterschiedlich gefärbt zur Welt. Die Jun- gen, deren Mütter Nahrungsergänzungsmittel erhalten hatten, waren überwiegend schlank und hatten braunes Fell. Die Mütter ohne Spezialdiät brachten dagegen fast nur gelbe und dicke Mäu- se zur Welt. Das Experiment zeigt: Eine bestimmte Ernährung kann die epigenetische Maschinerie so unterstützen, dass sie das ungünstige Yellow-Agouti-Gen abschaltet. Offenbar hat es positive Effekte, wenn man dem epigenetischen System die rich- tigen Grundsubstanzen zur Verfügung stellt, damit zum Beispiel ausreichend Methylgruppen vorhanden sind und die beteiligten Enzyme gut arbeiten können. Es ist also tatsächlich entscheidend für die spätere Gesundheit des Kindes, was die Mutter in der Schwangerschaft gegessen hat [8].
Besonders hilfreich für die epigenetische Maschinerie sind Sub- stanzen wie Folsäure, Vitamin B12, Cholin, Betain, Genistein, Met- hionin und Zink. Bisphenol A wirkt dagegen negativ. Es ist im klassischen Sinne vermutlich kaum krebsauslösend, aber es be- hindert bereits in geringen Konzentrationen das epigenetische System und kann auf diesem Weg vermutlich sogar zur Krebsent- stehung beitragen [9].

57
Q

Sind epigenetische Strukturen generations- übergreifend vererbbar?

A

Epidemiologische Daten weisen darauf hin, dass erworbene An- passungen an Umweltbedingungen unter bestimmten Umstän- den sogar an folgende Generationen vererbt werden können. In dem nordschwedischen Ort Överkalix werden seit sehr langer Zeit Daten zur Gesundheit und zur Qualität der Ernten erhoben. Interessante Zusammenhänge zeigten sich in Zeiten, in denen die Ernten schlecht waren und die Menschen wenig zu essen hatten: Männer, die zu dieser Zeit in der Vorpubertät waren, hatten spä- ter männliche Enkel mit einer statistisch leicht erhöhten Lebens- erwartung und einem verminderten Herz-Kreislauf-Risiko. Er- klärbar ist diese Beobachtung vielleicht durch die kalorienredu- zierte Ernährung, deren lebensverlängernde Wirkung in vielen Tiermodellen nachgewiesen ist. Scheinbar wurde dieser Effekt an folgende Generationen weitergegeben – möglicherweise, weil die Epigenome der sich gerade gebildeten Samenvorläufer- zellen durch die Umweltbedingungen beeinflusst wurden [10]. Bei Tieren wurde die Vererbung epigenetischer Merkmale we- sentlich detaillierter beschrieben: Bei Fruchtfliegen ist der Nach- weis bis in die achte Generation gelungen [11], bei Fadenwür- mern findet man Veränderungen des Histoncodes, die über de- ren Langlebigkeit entscheiden, noch drei Generationen später wieder [12].
Das Zeitalter der Epigenetik bringt einen neuen Blick auf die Prä- vention, gibt der Stammzellforschung wichtige Impulse, ver- spricht neue Medikamente und Diagnostika und stellt der Bio- medizin mit der Epigenomik ein neues Werkzeug zur Verfügung.